Die Orgel ist ein fülliges Instrument. Mit ihrem runden voluminösen Klang kann sie musikalische Räume ausfüllen, nicht nur in der Barockmusik, wo sie im Basso Continuo hervorragende Dienste leistet. Auch im Jazz der 1950 Jahre hat im damalig populären Orgeltrio die Hammond B-3 eine herausragende Rolle gespielt.
Allerdings: Was in den 1950er Jahren als letzter Schrei galt, hört sich heute oft weniger aufregend an. Das Orgeljazztrio, wie es Jimmy Smith und andere verkörperten, ist ein solches Bandformat, das schlecht gealtert ist und über die Jahre rapide an Attraktivität verloren hat.
Bandleader und Saxofonist Daniel Erdmann hat sich vorgenommen, das mit seinem Organic Soulfood-Trio zu ändern. Er knüpft dabei an Entwicklungen an, wie sie Larry Young (alias Khalid Yasin) von der Tony Williams Lifetime, aber auch progressive Rockgruppen wie Egg, in den Siebzigern unternahmen, um den Sound des Orgeltrios auf die Höhe der Zeit zu bringen, woran Medeski Martin & Wood später anknüpften.
Mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Gegenwart kreiert Erdmann’s Organic Soulfood eine Musik, die sich ihrer Souljazz-Herkunft bewußt ist und doch darauf abzielt, neue Funken aus diesem klassischen Jazzformat zu schlagen.
Jede der acht Kompositionen ist genau durchdacht, wobei jeweils ein anderer Ton angeschlagen wird, der Elemente aus Jazz, Rock, Latin und Funk auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Dosierungen mischt.
Daniel Erdmann's Organic Soulfood - Oh Sweet Unknown (Youtube)
Erdmann brilliert auf dem Tenor- und Sopransaxofon mit klaren Phrasen und sprudelnder Energie, während Drummer Jim Hart im Groove-Spiel die größte Wirkung entfaltet, aber auch in gedämpften Passagen mit den Besen umzugehen weiß. Die Orgel von Antonin Rayon, der auch Synthesizer spielt, sorgt für einen vollen Sound und wartet in den Improvisationen mit bunt schillernden oder funkelnden Tönen auf. Das klingt aufregend und frisch und haucht einem scheinbar antiquierten Bandformat neues Leben ein.
Daniel Erdmann’s Organic Soulfood: Into The Sweet Unknown (BMC Records)
Das Trio Crispell / Andersson / Østergaard-Nielsen
Aus historischen Gründen leiden Drummer bisweilen an einem Minderwertigkeitskomplex, den sie durch Hyper-Virtuosität und Hochgeschwindigkeit zu kompensieren versuchen. Michala Østergaard-Nielsen ist keine derartige Schlagzeugerin – im Gegenteil. Die Dänin, die in einem Dorf außerhalb von Kopenhagen wohnt und seit längerem auf der skandinavischen Jazzszene aktiv ist, steht für eine radikale Zurückgenommenheit und begreift sich eher als Komponistin, der es zuvörderst um ihre Kompositionen geht und nicht um Trommelartistik.
Hörimpuls:
Es dauert dann auch mehr als drei Minuten, bevor im Auftaktstück des Debutalbums ihres Trios mit Marilyn Crispell (Piano) und Thommy Andersson (Baß) überhaupt erst sachte Tupfer vom Schlagzeug zu vernehmen sind. Die Komposition The Cave wird vom Klavier getragen und besteht aus sparsam gesetzten Tönen und Akkorden, die eher an einen Kirchenchoral erinnern als an Jazz. Und dieses Stück setzt den Ton. Der anschließende Titel beginnt mit einem noch leiseren Zirpen auf den Pianosaiten, dem sich eine Meditation auf dem Baß anschließt. Eine derartig sensible Musizierweise durchzieht nahezu das gesamte Album, abgesehen von einer freien Ensemble-Improvisationen, bei der es in gewohnt heftiger Freejazzmanier zur Sache geht, was bei einer solch versonnenen Grundstimmung eher als störend empfunden wird.
Crispell / Andersson / Østergaard-Nielsen – The Cave (ILK Music)
Jason Seizer - ein Leben als Jazzmusiker, Veranstalter und Produzent
vlnr: Fabian Arends, Jonas Westergaard, Jason Seizer, Pablo Held (Foto: Jakob Stolz)
Ich fahre die Cannstatter Straße entlang, von Bad Cannstatt nach Stuttgart. Der Blitz kennt mich und ich schleiche wie alle Fahrzeuge brave 40 km/h, zum Zerreißen langweilig. Jason Seizers Modern Jazz CD Vertigo (Label Pirouet, 2020, Liveaufnahme im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks) läuft, seine achte CD: romantisch, zärtlich gehauchtes Tenorsaxofon, plötzlich explodiert Jasons Kanne. Erst spitz und frech, in höchsten Tönen markerschütternd, nun abgrundtief. Zu jedem Atemzug verändern sich die Klangfarben. Jason zieht in dem Stück The Movie Suite alle Register, danach improvisiert das Jason Seizer Quartett das Vertigo Love Theme aus Hitchcocks Thriller frei und gefühlvoll dem Ende entgegen.
Jason Seizer, geboren 1964 in Stuttgart, sah ich erstmals 1984 im Bunker am Wilhelmsplatz Stuttgart. Wir probten mit Biznis Biznis, einer Stuttgarter Band mit Jazzanklängen. Jason war von meinem Saxofon angetan, ich lud ihn ein und spielte ihm John Coltranes LP Ballads vor. Wir kauften in der Buchhandlung Wittwer am Schlossplatz Biografien von Charlie Parker, John Coltrane und Miles Davis, wir stöberten in meiner Notenschule von Oliver Nelson und ich erzählte ihm von der Jazzstadt Stuttgart, meiner Jugend, langen Nächten im Publikum oder sogar auf der Bühne, als Teen, in Clubs wie dem "Atlantik" in der Büchsenstraße, später Berliner Platz, Hahnenhof oder Braunschweigers Jazzclubs am Rotebühlplatz. Eine neue Welt eröffnete sich ihm, er besorgte sich Charlie Parker Platten, die er in seinem VW Käfer auf Kassette hörte und wurde ganz verrückt danach, sein Verlangen schien grenzenlos. Er kaufte sich ein Sax, schloss sich in den Bunker ein und spielte wenige Wochen später auf dem Sommerfest der Kunstakademie seinen Parker und seinen Coltrane. Weitere Auftritte auf Partys und Jazzclubs folgten. Der Gig mit der Band Shot Light Blue, als Vorgruppe vor der New Yorker Fakejazz Band Lounge Lizards im Feuerwehrhaus Heslach bleibt Vielen in Erinnerung. Unvergesslich für mich: Wie er in einem himmelblauen Leinenanzug im L'Aleph als Gast bei der Szeneformation "Jazzbandneger" auftaucht. Dank eines Freundes, der 1984 das Moers Jazz Festival besucht hatte, war ich immer auf dem Laufenden. Von ihm bekam ich immer die besten Schallplattentipps, die ich wiederum Jason vorspielte. Julius Arthur Hemphill, die Scheibe hieß Georgia Blue, sie haute uns vom Hocker. Jason lieh sich die Platte aus, ich glaube für immer. In der Bar EXIL stand er am Flipper, er war der Beste und so erhielt er seinen Spitznamen nach dem Protagonisten eines Pinball-Films, der immer den High-Score holte. "Ich habe das gar nicht als Spitznamen empfunden, es war wie eine neue, zweite "Identität", schreibt Christian Otto Seizer per sms. Seinem Hund gab er den Namen Monk. Nach Thelonious Monk, dem unkonventionellen Jazzpianisten.
Jason ist "Blockflötenfan", seit dem Kindergarten bis zum Abitur vollbrachte er als ehrgeiziger Flötenschüler - angespornt von seinen Eltern - Höchstleistungen aber belegte im Landeswettbewerb nur den dritten Platz. Auf dem Heimweg wurde im Auto geschwiegen, seine Eltern und auch er waren enttäuscht. In der Jury saß auch mein Vater Luis Steiner, Leiter der Stuttgarter Musikschule und Gründer von "Jugend musiziert". Nachdem Jason von der Blockflöte zur Querflöte wechselte fiel ihm der Umstieg aufs Sax nicht schwer. Autodidakt Jason suchte den Kontakt zu Stuttgarter Jazzgrößen wie Frederic Rabold, er erkannte in Saxofonist Ekkehard Rössle einen Gleichgesinnten und mit ihm zog es Jason schließlich nach München, um bei Jürgen Seefelder Unterricht zu nehmen. Ein Wohnungstausch mit einer Münchnerin war praktisch: Jason ließ sich in der bayrischen Landeshauptstadt nieder. "In München ging‘s dann richtig los, unter eigenem Namen, das war im Herbst 1988, ich wurde in der Szene aktiv!" erzählt Jason Seizer. 1990 bis 1994 studierte er in Hilversum Saxofon. Wir hielten Kontakt und trafen uns zwischendurch im Jazzclub "Rogers Kiste". Jason redete holländisch. Prägend war sein Aufenthalt in New York im Frühjahr 1994: "Ein Flash! Unterricht bei Joe Lovano, von ihm habe ich ewig gezehrt, bekannte Jazzstücke, das war selbstverständlich, in allen Tonarten zu spielen. Wie man einen Ton bildet, beginnt und beendet." Die warmen Klangfarben und der Atemfluss, daran arbeitet Jason unaufhörlich. Er spielt ein Holzmundstück. Weite Öffnung und hohe Blattstärke erinnern an Trane, an John Coltrane.
Jason Seizer Quartet auf dem Jazzfest München 2020 (youtube)
"Als Jazzmusiker kann man leben", betont Jason im Gespräch, "man muss dafür etwas tun, denn nur 5 Prozent sind Talent, der Rest ist Üben, Arbeit, möglichst ohne Druck aber mit viel Geduld." Die Konkurrenz ist groß. "Früher gab es im deutschsprachigen Raum drei Hochschulen mit dem Studiengang Jazz, heutzutage 27 allein in Deutschland!" Jason nennt sich free lancer. Er übernimmt allerlei Aufgaben:
Als CD-Verkäufer in einer Jazzabteilung, 1989 als Roadmanager für den Jazzbassisten Buster Williams, als Saxofonlehrer und als freier Saxofonist in Bigbands oder auf Hochzeiten, er hat alles in den 90ern ausgeschöpft. Er leitete von Januar 2000 bis Dezember 2001 den Münchner Jazzclub Unterfahrt. "Ich hab alles gemacht, außer Bierverkauf, 90 Stundenwoche!"
2003 gründete er mit dem Münchner Kaufmann Ralph Bürklin das Label Pirouet Records. Nun als Produzent und Toningenieur tätig, etabliert er es als eines der wichtigsten Jazz-Independent-Labels Europas mit internationalem Portfolio. "Bei der Labelarbeit, insbesondere während der Aufnahme im Studio geht es darum, eine gute Umgebung und Atmosphäre für die Musiker zu schaffen, um den musikalischen Prozess an sich. Und Warten können ist wichtig. Warten im Sinne von Sergiu Celibidache der einmal gesagt haben soll: Musik kann man nicht machen, Musik passiert."
Von 2013 bis 2016 präsentiert Jason den Jazz Salon auf der Kleinkunstbühne Heppel & Ettlich, zwei Freaks aus der alten Schwabinger Szene und in einer Weinhandlung veranstaltet er die Reihe Wein & Jazz. 2020 und 2023 veranstaltete Jason in Eigenregie das dreitägige Münchner Jazzfestival Muctones "Musik im Wohnzimmer". Diese Wohnzimmeratmosphäre gefällt ihm, "Leute zusammenbringen", das ist sein Anliegen. "2026 vielleicht wieder". Seit 2015 spielt er in seinem aktuellen Quartett, in Clubs, auf Festivals und Tourneen. Kontinuität und warme Atmosphäre zeichnen die Vier aus. Am Piano sitzt Pablo Held, am Schlagzeug Fabian Arends, Bass spielt Jonas Westergaard. Nicht Perfektion, sondern Wege erproben und Freundschaft stehen im Vordergrund. Eine neue CD ist in Aussicht, Balladen sollen es sein.
Aktuell übernahm Jason, der bisher bereits 180 Alben aufgenommen und abgemischt hatte das Studio Kyberg, in dem er bereits als Produzent und Tonmeister arbeitete, einen "open creative space. Dieser Raum ist ein Instrument!" freut er sich. Für Aufnahmen, Konzerte, für Live-Aufzeichnungen, für eigene Projekte. "Das ist schon verrückt, heute produziert jeder zu Hause am Laptop und wir haben einen ganzen Raum von 80 Quadratmeter! Ich will Menschen verbinden", betont er noch einmal und das glaubt man der reifen Persönlichkeit aufs Wort.
An ein Erlebnis im Jazzclub Bix in Stuttgart erinnert sich Jason: Im Jahr 2008, da stand ihm einfach eine blöde Mikrofonkiste auf der Bühne im Weg, irgendwie kam ihm so Manches seltsam vor: Damit waren Auftritte in Stuttgart erst einmal erledigt. Aber er kommt regelmäßig nach Stuttgart, bringt seine Neuerscheinungen vorbei, mal grillen wir einen Oktopus oder sitzen nur herum. In meinem Punkbuch über Stuttgart kommt er auch vor, denn er spielte tatsächlich mit Mitschülern aus dem Karlsgymnasium in so ner Art Punkband, frühe 80er. Ich glaube, dass Stuttgart immer noch Heimatgefühle in Jason weckt. Bald sieht man sich in Stuttgart wieder. Jason auf der Bühne, Solo, im Duo oder Trio. Oder mit seinem aktuellen Quartett.
Simon Steiner ist freier Autor. Er schrieb das Buch "Wie der Punk nach Stuttgart kam" (edition-randgruppe) und zahlreiche Artikel über seine griechische Lieblingsmusik Rembetiko, die er mit Klaus Pfeiffer und Gästen auch live spielt. Er arbeitete als Lehrer, Lehrerausbilder und im Bereich Sprachförderung für das Jugendamt Stuttgart.
Mary Halvorson (Gitarre) und Sylvie Courvoisier (Piano) zählen zu den herausragenden Persönlichkeiten der New Yorker Jazzszene. 2017 haben sie bereits ein gemeinsames Album eingespielt, an das sie jetzt anknüpfen. Bone Bells besteht aus acht Kompositionen, von denen jeweils vier von den beiden Beteiligten stammen. Die Musik bewegt sich entlang den avancierten Rändern des zeitgenössischen Jazz, greift gelegentlich in atonales Terrain aus und bezieht Elemente der Minimal Music und der avantgardistischen E-Musik ein.
Wenig wird dem Zufall überlassen. Disziplin und Präzision prägen das Geschehen. Die Kompositionen sind bis ins Kleinste durchgeplant, selbst die Improvisationen scheinen genauen Vorgaben zu folgen. Dabei gelingt es dem Duo, einen Klangraum zu schaffen, der ganz und gar ihr eigener ist.
Sylvie Courvoisier & Mary Halvorson: Bone Bells (youtube)
Die Musik ist von äußerst quirliger Natur, sprudelt vor Übermut und kühnen Ideen, die nicht selten eine überraschende Wendung nehmen. Halvorson wartet mit eine paar raffinierten Saiten-Tricks auf, während Courvoisier ab und zu im Inneren des Pianos agiert, um andere Klangfarben zu erzeugen. Im „Nags Head Valse“ kommt sogar eine Portion Humor ins Spiel, wenn die beiden in schalkhafter Manier mit dem Walzer Schabernack treiben, während das Album sie insgesamt im Zenit ihres kreativen Schaffens zeigt.