Friday, 23 June 2023

Nachruf: Peter Brötzmann (1941 – 2023)

Radikaler Wüterich  

Als Saxofon-Berserker berühmt, avancierte Peter Brötzmann zum weltweit berühmtesten deutschen Jazzmusiker – jetzt ist der Wuppertaler im Alter von 82 Jahren verstorben 


 Foto: Rory Merry / Promo

 

cw. Peter Brötzmann war einer der wenigen deutschen Jazzmusiker mit internationaler Reputation. Ob Japan, Großbritannien oder die USA, wo immer der Saxofonist auftrat, waren die Säle voll. Vor allem in Amerika verehrte ihn eine ergebene Fangemeinde. Seit er Mitte der 1970er Jahre das erste Mal in den USA auftrat, war er Stammgast in New York und Chicago. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war Brötzmann mit der amerikanischen Punkjazz-Supergruppe Last Exit unterwegs, danach leitete er über Jahre das Chicago Tentet, ein Freejazzorchester.

 

“Vielleicht habe ich einfach den ganzen Freejazz-Mist satt!” hatte Brötzmann vor ein paar Jahren mit ironischem Unterton gesagt, ein Satz, der umso erstaunlicher klang, hatte der Saxofonist doch ein Leben lang nichts anderes als freien Jazz gespielt. Der Wuppertaler galt als Berserker, der musikalischen Barrieren niederriß und die Improvisation auf die Spitze trieb. Im Herbst seines Lebens trieben ihn allerdings andere Gedanken um. “Man stößt bei der totalen Improvisation an Grenzen, die sich nicht weiter hinausschieben lassen,” räumte er 2021 ein und signalisierte eine Richtungsänderung, die sich auf seinen letzten Einspielungen manifestierte. 

 

Der Schwenk war nicht über Nacht gekommen und auch nicht ganz freiwillig. Vielmehr hatte eine Lungenerkrankung Brötzmann zur Kurskorrektur gezwungen. Sowohl sein Soloalbum “I Surrender Dear” von 2019, als auch die Einspielung mit der Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leigh „Sparrow Nights“ (2018) boten anstelle von Chaos und Tumult über weite Strecken Andacht und Versenkung. 




 

Allerdings war Brötzmanns Neujustierung keine Kehrtwendung, sondern eine graduelle stilistische Verschiebung. Melodien und Strukturen bekamen einen höheren Stellenwert, auch räumte er Pausen größeren Raum ein. Anstelle des unerbittlichen Powerplay war ein weniger rabiates Musizieren getreten. Immer noch war sein Spiel reich an Dissonanzen, rauher Intonation und zerklüfteten Spaltklängen, doch zeichnete er nun die atonalen Linien mit feinerem Pinsel. Brötzmann hatte (mindestens) einen Gang heruntergeschaltet. Er bremste ab und fuhr musikalisch nicht mehr konstant auf der Überholspur.

 

Wer genauer hinhörte, konnte schon seit längerem einen Wandel registrieren. Die Musik des Trios Full Blast, das Brötzmann mit den beiden Schweizern Marino Pliakas (Baßgitarre) und Michael Wertmüller (drums) bildete, besaß jenseits aller kraftstrotzenden Monumentalität immer einen melodischen Kern. Da blies Brötzmann dann präzise gemeißelte Melodien von hymnischer Kraft, die manchmal so klangen wie die abstrakten Metamorphosen der erdigen Soul-Saxofon-Riffs eines King Curtis oder Junior Walker.


Marino Pliakas, Michael Wertmüller, Peter Brötzmann (Promo)

 

Seine Neuorientierung wollte Brötzmann keineswegs als Distanzierung von seiner Vergangenheit verstanden wissen – im Gegenteil: “Unsere Revolte in den 1960er Jahren war wichtig, um Dinge aufzubrechen, zu verändern,” bemerkte der einstige Bürgerschreck in Sachen Musik nicht ohne Stolz. “Doch heute stellt sich die Situation anders dar.” 

 

Die Pandemie verordnete Brötzmann eine musikalische Zwangspause, die ihm gleichzeitig mehr Zeit für seine andere Leidenschaft bot, die bildende Kunst. Fast täglich ging er während des Lockdown-Winters von 2020/21 die zehn Meter von seiner Wuppertaler Wohnung ins Hinterhaus, obwohl ihm die kalte Luft im Freien die Brust zuschnürte. In seinem Atelier stürzte er sich dann in die Arbeit an Ölgemälden, Materialbildern, Objektkästen, Druckgraphiken oder kleinen Skulpturen. 


Gästebuch der Manufaktur, Schorndorf

 

1941 in der Ruhrpott-Stadt Remscheid geboren, wollte der Teenager anfangs Graphikdesigner werden. Ab Ende der 1950er Jahre absolvierte er an der Werkkunstschule in Wuppertal ein vierjähriges Kunststudium, während er in seiner Freizeit in einer Dixielandband spielte. Brötzmann begann sich für die neusten Kunstströmungen zu interessieren und wurde Assistent von Nam June Paik, mit dem er an diversen Fluxus-Performances und Ausstellungen teilnahm, die den Kunstbegriff auf den Kopf stellten. 

 

Mit der gleichen Radikalität warf Brötzmann dann ein paar Jahre später die Jazztradition über den Haufen und schockierte mit brachialen Improvisationen und infernalischen Klanggewittern die Jazzgemeinde. Seine ersten beiden Alben „For Adolphe Sax“ (1967) und „Machine Gun“ (1968) bildeten Wegmarken des freien Jazz und begründeten seinen Ruf als radikaler Wüterich, von dem sich selbst Kollegen des modernen Jazz wie Joachim Kühn distanzierten. Bis an sein Lebensende blieb Brötzmann dem freien Spiel treu, nicht ohne seine Konzeption immer wieder erneut den veränderten Bedingungen anzupassen. „Herausforderungen sind wichtig, sonst rostet man ein“, lautete sein Credo. 

 

Von einer Erkältung, die er sich bei seinem nachgeholten Fest zum 80. Geburtstag einhandelte, hat er sich nie mehr richtig erholt. Seine letzten Konzerte, die er noch im Januar (Club Manufaktur, Schorndorf & Club 71, Weikersheim) und im Februar (Cafe Oto, London) absolvierte, hatten ihn schon völlig überfordert und auch derart ausgelaugt, dass er im Krankenhaus landete und nur knapp einen Herzstillstand überlebte, was ihn wiederum so  schwächte, dass er – wieder daheim – nur noch unter größter Anstrengung ein paar Meter gehen konnte. Jetzt ist Peter Brötzmann am 22. Juni verstorben.


Hörprobe:

Peter Brötzmann Quartett, 1974 (mit Peter Kowald, Bass / Alexander von Schlippenbach, Piano / Paul Lovens, Drums) (youtube) 



 

 

No comments:

Post a Comment