Composing while black
George E. Lewis‘ und Harald Kisiedus Buch über die Geschichte einer systemischen Diskriminierung
cw. Das Thema dieses Buchs ist die Diskriminierung afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen in der zeitgenössischen Musik. George E. Lewis, Komponist, Improvisator und Autor, beschreibt mit Co-Herausgeber Harald Kisiedu die Geschichte dieser monumentale Ungerechtigkeit, wobei – im Gegenzug – von unterschiedlichen Autoren und Autorinnen verschiedene schwarze Komponisten und Komponistinnen portraitiert bzw. interviewt und ihre Werke analysiert werden.
Die Veröffentlichung – zweisprachig in deutsch und englisch – beginnt mit der Society of Black Composers, zu der sich 1968 in New York ungefähr 50 afro-amerikanische Komponisten und Komponistinnen (unter ihnen Herbie Hancock, Ornette Coleman und Archie Shepp) zusammenschlossen. Das Ziel: die Institutionen des zeitgenössischen Musikbetriebs zu einer Öffnung zu bewegen und dauerhaft umzukrempeln. Allerdings waren die Beharrungskräfte so stark, dass erst ein halbes Jahrhundert später spürbar Bewegung in die Sache kam. Als Indiz dafür kann gelten, dass bei den Darmstädter Ferienkursen, dem heiligen Gral der zeitgenössischen Avantgarde, neben George E. Lewis, auch Anthony Braxton und Tyshawn Sorey als Dozenten wirkten, was zuvor nahezu undenkbar gewesen wäre.
Das Buch zeichnet in verschiedenen Essays das Leben und Werk afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen nach, so u.a. von Tania Léon, Andile Khumalos, Charles Uzor und Anthony Davis, beschreibt die Vorurteile, Schwierigkeiten und ethnischen Zuordnungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen (und sehen). Ein langes Interview mit Alvin Singleton, dem ersten schwarzen Komponisten, der bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt präsent war, bildet den Kern der Publikation.
Dabei wird überdeutlich, dass es bei dem Konflikt letztlich um Macht geht, was gleichbedeutend mit Geld ist, also um die Frage, wer öffentliche Mittel für Kompositionsaufträge, Stipendien, Konzert- und Festivalauftritte verteilt und nach welchen Kriterien dies geschieht. Dass hier lang-etablierte Seilschaften öffentlicher Institutionen und akademische Netzwerke die Strippen ziehen, kann nur Naive und Gutgläubige verwundern.
Die Herausgeber machen klar, dass sie ihre Mission nicht als Identitätspolitik (miß-)verstanden wissen wollen, obwohl in einzelnen Beiträgen „Wokeness“ die Perspektive bestimmt. Vielmehr geht es den beiden um die Erweiterung und Bereicherung der ästhetischen Erfahrung für den bis heute eurozentrischen E-Musikbetrieb, um vielleicht irgendwann in Zukunft einmal zu einer „farbenblinden“ Position zu gelangen, bei der nicht mehr „gender, race and identity“ das Urteil über Musik bestimmen, sondern allein Fragen der ästhetischen Qualität.
George E. Lewis / Harald Kisiedu (Hg.): Composing While Black – Afrodiasporische Neue Musik Heute (Wolke Verlag, deutsch & englisch, 328 Seiten, mit wenige SW-Abbildungen; E 29.-)
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