Komponieren als Handwerk
Christian Wolff über den Sinn des Komponierens, die Widersprüche politischer Avantgarde-Musik und die Konzertaufführung als demokratische Praxis – Rückblick auf ein bewegtes Leben
Christian Wolff, Huddersfield 2014 (Foto: Christoph Wagner)
«Mein Vater hat als Achtjähriger noch Brahms kennengelernt,» lacht Christian Wolff (Jahrgang 1934) bei dem Gedanken, der ihm bis heute – wie er sagt – «einen Kick gibt». Der amerikanische Komponist stammt aus einem musikalischen Milieu: Sein Urgroßvater Hermann Wolff war Dirigent, sein Großvater Leonard Wolff Komponist und Violinist in Bonn und mit Brahms befreundet. Sein Vater Kurt Wolff wurde Verleger, publizierte Kafka, Pasternak, Robert Musil und Walter Benjamin. Über Frankreich und Italien rettete sich die Familie 1941 vor den Nazis ins amerikanische Exil. Christian Wolff wuchs am Washington Square in Manhattan auf. Gleich um die Ecke wohnte Edgard Varèse, der manchmal vorbeischaute. Viele emigrierte Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler und Intellektuelle, die in den USA gestrandet waren, gehörten zum Freundeskreis der Familie. Als 16jähriger erhielt Wolff Kompositionsunterricht von John Cage und übte im Sommer in dessen winziger Wohnung auf der Lower East Side Klavier, weil seine Eltern kein Instrument besaßen. Aus dieser Verbindung ging die Komponistengruppe The New York School hervor, zu der noch Morton Feldman, Earle Brown und David Tudor gehörten.
Ihr Vater Kurt Wolff war in der Weimarer Zeit ein berühmter Verleger in Deutschland. Franz Kafka gehörte zu seinen Autoren, auch Trakl und Werfel. Sie sind allerdings in Frankreich geboren. Steht dieser Umstand in direkter Beziehung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus?
Christian Wolff: Meine frühesten Kindheitserinnerungen stammen aus Italien. Meine Eltern verließen Deutschland 1933, sofort nach der Machtergreifung der Nazis. Wir gingen zuerst nach Südfrankreich und zogen dann weiter nach Italien, wo meine Familie ein Bauernhaus in der Nähe von Florenz besaß. Ich habe sehr klare Erinnerungen daran, dass wir diesen Ort ganz plötzlich verließen, einen Tag nachdem der Hitler-Mussolini-Pakt verkündet wurde. Wir packten unsere Sachen und kehrten nach Frankreich zurück. Ich wuchs für eine Weile als kleiner Franzose auf und ging in Paris zur Schule. Die Schule wurde dann evakuiert und ich kam nach La Rochelle. Meine Eltern wurden 1941, weil sie deutsch waren, von den Franzosen interniert. Schließlich wurden wir wieder vereint und flohen durch Spanien nach Lissabon. Von dort ging es mit dem Schiff nach New York. Wir mußten nicht illegal die Pyrenäen überqueren, da wir die nötigen Dokumente besaßen und deshalb mit dem Zug fahren konnten. Ich erinnere mich noch an die Eisenbahnfahrt durch Spanien und an Lissabon, wo wir auf die Abfahrt des Schiffes warteten. In diesen Tagen im März 1941 feierte ich meinen siebten Geburtstag.
Waren sie sich als Kind der Bedrohung bewußt? Empfanden sie ihre Kindheit als dunkle, schlimme Zeit?
Ich war nichts anderes gewöhnt. Die Emigration nach Amerika war deshalb nur ein weiteres Ereignis für mich. Wenn man klein ist, empfindet man alles als neu, sowohl das Gute als auch das Schlechte. Ich dachte irgendwie: «So ist das Leben eben!» Ich freute mich nicht, weggehen zu müßen, aber es schien mir auch nicht so fürchterlich, weil ich nirgendwo richtig zu Hause war, da wir laufend umzogen. Es war nur ein weiterer Umzug – mehr nicht.
Wie gingen ihre Eltern mit der schwierigen Situation um?
So gut sie konnten. Es war hart. Ihre Ersparnisse waren beinahe aufgebraucht. Glücklicherweise wurde uns von Freunden geholfen. Meine Eltern reagierten immer auf das nächste Ereignis und hofften, dass das Geld reichen würde. Vor allem die Überfahrt kostete ein Vermögen. Sie konnten verlangen, was sie wollten, da viele verzweifelt darauf warteten, nach Amerika in Sicherheit zu gelangen.
Hatte Ihr Vater böse Vorahnungen, von dem was kommen würde?
Dass er in Deutschland nicht bleiben konnte, stand außer Frage. Danach hofften meine Eltern, dass der Krieg sich nicht so schnell ausbreiten würde. Dann war die Frage: wohin? Meine Eltern hatten einige Freunde in New York und dachten, in Amerika hätten sie gute Möglichkeiten, noch einmal von vorne zu beginnen. In diesen Jahren war New York voll von Exilanten. Es gab eine deutsche Exil-Kolonie, wo deutsch gesprochen wurde. Wie mein Vater die Schwierigkeiten meisterte, war bemerkenswert, weil sein Leben bis dahin ohne nenneswerte Probleme verlaufen war. Er kam zu Geld, als er achtzehn war, und stand von da an auf eigenen Füßen, was es ihm erlaubte, seinen eigenen Verlag zu gründen. Die Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre bedeutete das Aus für sein Unternehmen und dann kamen die Nazis. Im Ausland konnte er nicht arbeiten. Also lebte wir die nächsten zehn Jahre von seinen Ersparnissen. Die Situation machte ihn verrückt, weil er eine aktive und umtriebige Person war. Es war wichtig für ihn, tätig zu sein. Ein Teil seiner Energie wurde durch die Anstrengungen absorbiert, uns über die Runden und in Sicherheit zu bringen. Als wir in New York ankamen, konnte er es kaum erwarten, neu zu beginnen und fand auch bald Leute, um einen neuen Verlag zu gründen.
Empfanden sie die Ankunft in Amerika als Kulturschock?
Nicht wirklich, Kinder sind anpassungsfähig. Sie lernen Sprachen mühelos und schnell. Und New York war ideal dafür, sehr kosmopolitisch. Als wir ankamen, fanden meine Eltern sogar eine französische Schule, in die ich gehen konnte.
Fiel Ihren Eltern die Eingliederung ähnlich leicht?
Ja. Es gab schon eine bestehende Exil-Kultur, an der sie partizipieren konnten. Sie besaßen einige alte Freunden in der deutschen Kolonie, etliche davon waren Musiker. Mein erster Kontakt mit Musik kam durch diese Leute zustande. Die Universität von Princeton, New Jersey – eine Bahnstunde von New York entfernt – war ein Hochburg von Emigranten. Viele deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle waren dort. Hermann Broch lebte da und der Kunsthistoriker Erwin Panofsky. Unsere Familie fuhr manchmal nach Princeton hinaus, wobei ich mich besonders an eine Vorlesung erinnere, die der Physiker Wolfgang Pauli hielt, bei der auch Albert Einstein anwesend war und noch drei andere Nobelpreisträger. Niemand verstand wahrscheinlich etwas außer diesen vier.
Sie erwähnten den Einfluß deutscher Exil-Musiker. Gab es Konzerte oder waren das Privataufführungen?
Konzerte. Wir besaßen ja kein Klavier. Mein Vater spielte Cello, aber hatte sein Instrument zurückgelassen. Diese Konzerte beeindruckten mich stark und ich begann, so viel Musik wie möglich zu hören. Das Radio wurde wichtig, weniger Schallplatten, die wir uns nicht leisten konnten. Ich bat meine Eltern, mir Klavierunterricht zu ermöglichen, weil ich Pianist werden wollte. Es stellte sich allerdings heraus, daß ich zu wenig Talent besaß, weshalb ich mich dann dem Komponieren zuwandte.
Sie haben, parallel dazu, eine Karriere als Altphilologe eingeschlagen. Warum?
Nach Beendigung der Schule stand ich vor der Frage: wie weiter? Ursprünglich hatte ich vor, auf eine Musikhochschule zu gehen, allerdings wurde deutlich, dass ich es als Konzertsolist nicht weit bringen würde. Ein Jahr zuvor war ich John Cage begegnet, der mich ermutigte, zu komponieren. Er schrieb diese Musik, die keinen Zusammenhang zu haben schien mit allem, was man auf der Musikhochschule lernen würde. Zudem sah ich wie John Cage lebte. In den 1950er Jahren war er völlig unbekannt. Er hatte keinen Erfolg, war arm wie eine Kirchenmaus. Er ging durch eine schwierige Phase. Ich bewunderte ihn dafür, war mir aber sicher, dass ich so nicht leben wollte. Deshalb beschloß ich, einen Beruf zu finden, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Da ich immer stark an Literatur interessiert war – von Hause aus sozusagen –, fing ich an, in Harvard Englisch zu studieren. Doch die Vorlesungen waren total überlaufen, was mir nicht behagte. Also belegte ich ein Latein-Seminar, weil ich in der Schule einen sehr guten Latein-Lehrer gehabt hatte. Und es lief gut. Dort gab es nicht viele Studenten und wenn jemand etwas Talent zeigte, erhielt man Unterstützung und Ermutigungen. Ich begann mich dann für Griechisch zu interessieren und blieb dabei. Ich hatte Glück. Wenn man damals gut abschnitt, half einem die Universität sogar, einen Job zu finden. Und wie es der Zufall wollte, war mein erster Job in Harvard. Sie brauchten schnell jemanden und ich war zur Stelle. Also bekam ich den Posten. Das Leben als Akademiker hat den Vorteil, dass man relativ frei über seinen eigene Zeit verfügen kann und dass man viel Ferien hat. Den ganzen Sommer über hatte ich frei. So konnte ich komponieren und dennoch ein festes Gehalt beziehen. Ich war einfach nicht so mutig wie John Cage. Er war sehr stolz auf die Tatsache, daß er – sozusagen – sein Leben riskiert hatte, um Komponist zu sein. Und er war fast der Meinung, daß dies der einzig legitime Weg sei, wofür einiges spricht. Er hat diese Frühphase immer als seine «heroische Periode» bezeichnet. Er war furchtlos. Als das Leben am schwierigsten war, bezog er den Zufall in sein Konzept ein, was alle gegen ihn aufbrachte. Man sprach ihm ab, überhaupt ein Komponist zu sein. Das war schon bemerkenswert, dass er diesen Schritt machte, als er Aufträge und Unterstützung am bittersten nötig hatte. Mir fehlte dieses Temperament und ich war einfach auch realistischer. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit der Art von Musik, die mir vorschwebte, meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. In diesen Jahren begegnete uns das musikalische Establishment mit feindseliger Ablehnung. Die Leute hassten unsere Musik. Sie galt als furchtbar. Konzertmusiker hielten sie für unmöglich. Als Komponist wäre ich meinen Eltern auf der Tasche gelegen, was ich nicht wollte. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. Cage lebte von der Unterstützung seiner Eltern, die selbst nicht viel hatten. Das hätte mir nicht behagt.
Sie bildeten mit Cage, Earl Brown und Morton Feldman in den 1950er Jahren in New York eine Gruppe von Gleichgesinnten, die als die „New York School” bekannt wurde. Wie wichtig war dieser soziale und künstlerische Zusammenhang?
Die gegenseitige Unterstützung war unabdingbar. Ich hatte einfach Glück, daß ich genau zu dem Zeitpunkt, als ich diese Art von Musik machen wollte, Cage begegnete. Er hatte Morton Feldman zwei Monate zuvor getroffen und ein Jahr später stieß Earl Brown dazu. David Tudor war ebenfalls eine wichtige Figur in diesem Zirkel. Wir bildeten ein gegenseitiges Unterstützungsystem und obwohl unsere Clique klein war, war es uns sehr ernst. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, diskutierten. Cages Verbindungen halfen. Er kannte Virgil Thomson, den Komponisten, der damals der einflußreichste Musikkritiker in New York war und uns unterstützte, was äußerst wichtig war. Es gab keine öffentlichen Gelder für diese Art von Musik. Das bedeutete, dass Cage jedes Konzert selbst finanzieren mußten. Er wollte nicht für sich alleine die Werbetrommel rühren, sondern immer Werke von uns allen aufführen. Er war ein guter Organisator. Ich war damals 17 Jahre alt – ein Teenager in New York – und hätte nicht gewußt, wie man ein Konzert organisiert. Cage machte es möglich, daß unsere Werke aufgeführt wurden. Ein weiterer Pluspunkt war, dass Merce Cunningham auf unserer Seite stand, der damals schon ein hochangesehener Tänzer war und viel mit Cage arbeitete. Wir steuerten Kompositionen für seine Aufführungen bei, was unsere Musik in die Öffentlichkeit brachte. Es war eine stimulierende Szene und ein Glücksfall für mich.
Wie oft hat sich die Gruppe getroffen?
John Cage wohnte auf der Lower East Side und wir wohnte beim Washington Square, ebenfalls Downtown. Ich ging regelmäßig jede Woche zum Unterricht zu ihm. Nach fünf oder sechs Wochen meinte er, daß ich keinen Unterricht mehr bräuchte. Da wir kein Klavier hatten, bot er mir an, zum Üben zu ihm zu kommen. Eines Sommers ging ich in den Ferien jeden Wochentag drei Monate lang zum Üben zu ihm. Ich tauchte immer so um die Mittagszeit auf, gewöhnlich mit etwas Essen. Wir redeten ein bisschen. Dann zog es sich zum Komponieren zurück, und ich übte. Um vier oder fünf Uhr nachmittags ging er uptown, um Freunde zu treffen oder bei Merce Cunningham zu sein, und ich ging heim.
In welche Richtung entwickelte sich Ihre Musik in dieser frühen Phase?
Ich war an den verschiedensten Klängen interessiert, experimentierte auf dem Klavier. Ich hörte ein Konzert mit Bartoks Streichquartetten und war beeindruckt. Dann wurde Schönberg, Webern und Berg aufgeführt und dort fand ich einen Klang, der anders war. Ich wollte auch Klänge erzeugen, die man bisher noch nicht gehört hatte. Dissonanzen waren wichtig. Bei meinen ersten Stücken handelte es sich um Kanons, aber mit sehr enger Stimmführung, so daß man keine Melodie hören konnte, nur eine Reihe von Cluster. Cage beeinflußte mich in Richtung Perkussion. Er lieh mir Intrumente, um damit zu experimentieren. Ich probierte alles aus: Lieder für Stimme und Flöte, für Stimme und Violine und für Stimme und Perkussion. Der andere Komponist, den ich damals persönlich kannte war Varèse, der sich gleichfalls in seiner ganz eigenen Klangwelt bewegte.
Wann wurde Ihre Musik das erste Mal öffentlich aufgeführt?
Das passierte relativ schnell. Bei einem Cunningham-Tanzkonzert wurde ein 50-minütiges Stück von Cage aufgeführt, was für ein abendfüllendes Programm nicht ausgereicht hätte. Also bat man Morton Feldman und mich, Stücke zu schreiben, die dann vor der Tanz-Performance aufgeführt wurden. Ich komponierte ein Trio für Flöte, Trompete und Cello.
Sie haben Edgar Varèse erwähnt. Hatte sie beide Kontakt?
Er war ein Nachbar von uns, wohnte gleich um die Ecke. Kurz nachdem wir in das Apartment am Washington Square gezogen waren, klopfte es an der Tür. Mein Vater öffnete. Ein Mann stand draußen und sagte: „Boujours et bienvenu en New York. Je suis Varèse.“ Seine Frau war Übersetzerin und wahrscheinlich hatte er durch sie erfahren, dass meine Eltern angekommen waren, und kam einfach vorbei, um uns Willkommen zu heißen. Man freundete sich an und sah sich ab und zu. Als ich mich für avantgardistische Musik zu interessieren begann und mir aufging, wer er war, ging ich ein paar Mal bei ihm vorbei. Es brachte jedoch wenig, wahrscheinlich weil er seit Jahren keine Musik mehr geschrieben hatte. Er wollte nur noch elektronische Musik machen, aber die Technologie war noch nicht so weit, und so war er ein Komponist im Wartestand. Er sprach wenig über sein Werk. Er war ein wunderbarer Mensch, sehr freundlich und interessant.
Sie haben das Element der Improvisation in Ihr Werk integriert. Warum?
Ich ging mit meinen Freunden oft in Dixieland-Jazz-Clubs, als ich noch zur Schule ging. Die Musik beeindruckte mich, weil sie vollkommen improvisiert war und von Musikern gespielt wurde, die kaum Noten lesen konnten. Das hat mir imponiert. Ich improvisierte manchmal, wenn ich Tanzgruppen beim Proben begleitete, aber das war rein funktional. Erst als ich Ende der 1960er Jahre nach England kam und mit AMM spielte, entdeckte ich, daß in einem gewissen Kontext Improvisation auch in meiner Musik möglich war. Es machte einfach Spaß.
AMM – experimentelles Musikensemble, London, 1966
Nahmen Sie die Freejazz-Revolution wahr, die Anfang der sechziger Jahre in New York stattfand?
Nein, damals lebte ich bereits nicht mehr in New York. Doch das soll keine Entschuldigung sein, denn ich hatte auch zuvor schon die Bebop-Revolution mit Charlie Parker verschlafen. Mir fehlte die Antenne dafür und keiner meiner Komponisten-Freunde zeigte Interesse. Cage war nie an Jazz interessiert. Er mochte Jazz nicht. Er wollte nichts damit zu tun haben. Deshalb bekam ich keine Anregungen von dieser Seite.
Welche Auswirkungen hatte die Begegnung mit AMM für Ihr kompositorisches Schaffen?
Ziemlich große – vor allem was die Improvisation betraf. Oft scheint meine Musik offen für Improvisation zu sein, weil ich eine andere Art von Partitur verwende, was aber trotzdem eine Partitur bleibt, die bestimmte Dinge vorgibt. Es ist also nicht reine Improvisation. Allerdings schrieb ich ein Stück namens Edges, das ein reines Improvisationstück ist. Es gibt ein paar Zeichen, die man beachten muß – nicht mehr. Die Verwendung von solch einfacher Notation, die eine gewisse Richtung vorgibt, habe ich von Cornelius Cardew übernommen. Dieses Stück entstand während meines Englandaufenthalts. Man bat mich, Vorträge über meine Musik vor Kunststudenten zu halten, die nicht Notenlesen konnten. Anstatt viel zu reden, machten wir Musik. Dafür schrieb ich Stücke, Anordnungen, die man wie Prosa lesen konnte. Cardew machte damals ähnliches.
Waren diese Bemühungen, Laien in die Lage zu versetzen, selber Musik zu machen, politisch motiviert? Steht dahinter eine radikaldemokratische Ethik?
Ich begriff dieses Unterfangen nicht primär als politisch, sondern eher als pädagogisch. Ich war Hochschullehrer und unterrichtete gerne. Unterricht besteht ja darin, Leuten etwas zu zeigen, was sie noch nicht kennen, aber auf solch eine Weise, dass es zu einem Stück ihrer selbst wird, dass sie es sich wirklich aneignen. Die etablierte Musik behauptet, daß man keine Musik machen kann, wenn man nicht vorher zehn Jahre auf dem Konservatorium studiert hat. Das kam mir merkwürdig vor. Warum? Warum nicht? Ich war mir damals nicht der Tradition bewußt, in der ich mich bewegte, hörte aber später, daß Webern in Wien ebenfalls einen Arbeiterchor geleitet hat. Das gefiel mir. Das schöne dabei ist, dass ich ja selbst irgendwie zu diese Gruppe von Laien gehöre, da meine pianistischen Möglichkeiten immer bescheiden blieben. Trotzdem wollte ich Musik machen, nicht nur als Komponist, sondern auch als Aufführender. Deshalb schrieb ich Stücke, die ich auch selber aufführen konnte. Musik für Leute, die keine hochspezialisierten Instrumentalisten sind.
Die 1960er Jahre waren eine hochpolitisierte Zeit. Wie versuchten Sie damals, Ihre politischen Überzeugungen in die Musik einzubringen?
Schon Mitte der 1960er Jahre wurde ich durch die schwarze Bürgerrechtsbewegung politisiert. Aber ich brachte das damals nicht mit meiner Musik in Verbindung. Erst mit dem Vietnam-Krieg und dem Revival linker Politik unter Studenten und Intellektuellen wurde Politik für meine Musik relevant. Das war wie in den 1950er Jahren. Wir waren einen Gruppe von Freunden, die mit den selben Ideen umgingen. Frederic Rzewski gehörte dazu, Cornelius Cardew, Garrett List aus New York, Gerhard Grosskopf in Berlin, Yoshi Takahashi in Japan. Wir wachten politisch auf, waren tief betroffen von den Ereignissen und wollten mit unserer Musik Stellung beziehen.
Mit Avantgarde-Musik die Massen mobilisieren, scheint eine beinahe romantische Idee zu sein. Wie war ihre Einstellung damals?
Rzewski and Cardew versuchten den Widerspruch dadurch zu lösen, daß sie populistische Konzertmusik schrieben. Sie verwendeten wieder Harmonien, setzten traditionelle Melodien ein, Variationen, traditionelle Formen, schrieben virtuose Klavierstücke, die in eine normalen Konzertsituation paßten. Das war sicher nichts für die Arbeitermassen, sondern für den mehr oder weniger kultivierten und gebildeten Mittelstand. Aber sie empfanden es als ein Schritt aus dem Ghetto, in dem unsere Musik sich befand. Ich hatte Bedenken dagegen. Es kam mir verrückt vor. Ich begann mich für Lieder zu interessieren, weil man sie mit einer Botschaft versehen konnte. Doch irgendwie waren meine Songs ein bißchen skurril, nicht von der Art, die man bei Demonstrationen singen konnte. Ich versuchte dann, bestimmte politische Inhalte mit Texten in die Stücke einzubauen. Die Worte sollten unbequem sein, Denkanstöße geben. Oft wurden die Inhalte recht grob in die Musik implantiert. Doch es schien der Sache wert zu sein. Ich versuchte darüber hinaus, weniger esoterische Musik zu schreiben, Kompositionen, die zugänglicher waren, extrovertierter, mit vielen Noten und vielen Akkorden, mächtigen Klängen, energiegeladen. Darin arbeitete ich bestehendes Liedmaterial ein.
Die Politisierung hatte also großen Einfluß auf meinen Kompositionsstil in diesen Jahren. Trotzdem hielt ich am modernistischen Ansatz fest, versuchte weiterhin eigenständige Musik zu kreieren, geriet dabei aber mehr und mehr zwischen alle Stühle. Die Avantgarde-Hardliner sahen es als Ausverkauf an und das normale Publikum empfand die Musik als seltsam.
Wie reagierte Cage auf ihre politische Musik? Veränderte sich Ihr Verhältnis zu ihm?
Es war eine schwierige Zeit in meiner Beziehung zu Cage, weil er der Auffassung war, dass man Politik und Kunst nicht vermischen sollte, was sonderbar war, weil seine Musik ja sehr politisch war und seine anarchistische Position widerspiegelte. Aber wahrscheinlich ist es leichter, musikalisch etwas Interessantes zu machen, das dem Geist der Anarchie entspricht, als Kommunismus oder Sozialismus in Kompositionen zu propagieren. Cage war der Meinung, Musik ist Musik, und die politische Dimension würde der Musik nur schaden, sie zu politischer Propaganda degradieren. Kunst sollte dergleichen nicht tun. Ich arbeitete eng mit Cardew und Rzewski zusammen, die immer kritischer gegenüber Cage wurden.
Hielt Ihre Freundschaft mit Cage diese Spannungen aus?
Wir sahen uns nicht so oft in den 1960er Jahren, weil Cage mittlerweile berühmt und viel unterwegs war. Wir hatte allerdings eine schlimme Begegnung, als ich gebeten wurde, die Musik für einen Tanz-Auftritt von Cunningham beizusteuern. Musik für einen ganzen Abend, keine Auflagen – man konnte machen, was man wollte. Und weil ich zu dieser Zeit politische Musik machte, brachte ich politische Musik ein. Es ging alles so weit gut, bis zu diesem Arbeiterlied. Während also Merce Cunningham diesen wunderbar Tanz aufführte, gröhlten wir zu viert, und alle waren keine guten Sänger, eines dieser Arbeiterlieder. Im Rückblick kommt es mir lustig vor, weil es wohl die schockierenste Sache war, die ich jemals getan habe, viel schockierender als all die verrückten Musikexperimente. Vor diesem Publikum, ein traditionelles politisches Lied zu singen, war einfach unerhört. Da war eine Stille. Die Leute waren peinlich berührt. Man konnte es förmlich hören. Cage war richtig verärgert. Er redete nicht mehr mit mir. Er drehte sich auf dem Absatz um, als ich ihn nach dem Konzert begrüßen wollte. Ich fühlte mich übel und wußte, dass ich einen schlimmen Fehler begangen hatte. Wir schrieben einander danach, um die Sache zu klären, was sehr schwierig war. Eines Tages rief er mich im Sommer in Vermont an, ob er vorbeikommen könne, er wäre gerade in der Gegend und hätte einen Tag frei. Es war offensichtlich, daß er die Sache aus der Welt räumen wollte, was mich sehr freute.
Was denken Sie heute darüber?
Es war eine hocherregte Zeit. Der furchtbare Zustand der Welt ging einem unter die Haut. Wir waren betroffen und besorgt. Was ich daraus gelernt habe, ist, was Cage immer schon gesagt hatte: «Wenn du ein politisches Anliegen hat, handle politisch! Und wenn du ein musikalisches Anliegen hast, handle musikalisch!» Er beharrte auf dieser Trennung, die für mich heute Sinn macht. Später hörte ich von diesen lateinamerikanischen Dichtern wie Neruda, die ultramodern waren und vielleicht nur von 20 Leute verstanden wurden, und trotzdem alle Kommunisten waren. Dieses Dilemma schien kein Problem für sie zu sein. Es war also möglich. Nono ist ein ähnlicher Fall. Ich wurde bescheidener was die Möglichkeiten betrifft, politisch etwas zu beeinflußen. Heute versuche ich in meiner musikalischen Arbeit Dinge zu tun, die in einer bescheideneren Weise politisch sind. Im Alltag, beim Unterrichten oder bei meiner Arbeit mit Musikern bemühe ich mich, einem egalitären Prinzip zu folgen. Das ist bescheidener, aber dafür konkret und spezifisch. Und vielleicht kann man Leute dadurch überzeugen, dass dies ein besserer Weg ist, Dinge zu tun.
Christian Wolff beim Komponieren
Nach der politischen Phase – wo liegt für Sie heute der Sinn des Komponierens?
Die Frage beschäftigt mich nicht mehr. Komponieren ist für mich etwas, das ich einfach mache – machen muß! Ich habe Glück, weil ich inzwischen genügend Kompositionsaufträge bekomme. Es gibt eine Nachfrage nach meiner Musik. Ich komponieren nur, wenn mich jemand um ein Stück bittet oder ich einen Auftrag erhalte. Dann mache ich mich an die Arbeit. Manchmal habe ich Lust, ein Stück einfach so zu schreiben: für ein bestimmtes Instrument oder eine spezielle Besetzung, die mich interessiert. Doch das ist selten. Normalerweise fehlt mir die Zeit dazu, weil ich Verpflichtungen habe, denen ich nachkommen muß und das treibt mich an. Wenn ich die Kompositionsaufträge nicht hätte, würde ich wahrscheinlich trotzdem komponieren, weil ich mir ein Leben ohne Musik schwer vorstellen kann. Musik ist, was ich mache! Natürlich spiele ich auch Klavier – aber nur zum Hausgebrauch. Ich bin nicht gut genug, damit als Solist aufzutreten. Deshalb komponiere ich. Das hält mich mit der Musik in Kontakt, abgesehen vom Hören. Ich höre ziemlich viel Musik.
Gibt es keine existenziellen Zweifel?
Nein, gravierende Zweifel kenne ich nicht, was ein Glück ist. Manchmal gibt es einen Anflug davon. Dann blicke ich auf mein Werk zurück, was inzwischen ja eine beachtliche Menge Kompositionen umfaßt, und frage ich mich: «Hat das irgendeinen Wert? Hat es Bestand?» Auf einer anderen Ebene treiben mich jedoch keinerlei Bedenken um, sondern ich mache einfach, was ich machen muß, und das ist komponieren! Ich mache es so gut, wie ich nur kann. Ich bin in der glücklichen Situation, dass es über die Jahre immer genug Leute gab, die daran interessiert waren, meine Musik zu spielen. Wenn ich ein neues Stück geschrieben habe, sind für mich die Menschen am wichtigsten, die es aufführen. Ich mache mir keine Gedanken über das Publikum oder die Kritiker. Auf was es ankommt, sind die Interpreten. Wenn es ihnen gefällt und sie es spielen wollen, habe ich meine Arbeit ordentlich gemacht. Erfreulicherweise gab es über die Jahre immer eine Handvoll Musiker, die ein neues Stück von mir haben wollten.
Der Maurer will von Maurern respektiert werden…
So ist es. Man kann es auch Berufsehre nennen oder Professionalismus. Deshalb nehme ich auch Kompositionsaufträge für Instrumente oder Besetzungen an, von denen ich nicht im Traum gedacht hätte, jemals dafür zu schreiben. Vor einiger Zeit wurde ich angefragt, ein Stück für zwei Pianos und zwei Perkussionisten zu komponieren – also die Bartok-Sonate. Das will ich doch nicht machen! Warum tue ich mir das an? Nun, es sind zwei Pianisten, die ich mag und die mich fragten. Zudem verfügten sie über ein vernünftiges Budget. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Ich bin ein professioneller Komponist, und das ist die Aufgabe. Also mache ich es! Hoffentlich fällt mir etwas Interessantes ein.
Können solche Anstöße von außen den Horizont erweitern? Immer im eigenen Saft zu schmoren, kann ja eine Beschränkung sein.
Absolut. Deshalb habe ich auch den Kompositionsauftrag für die zwei Klaviere und zwei Perkussionisten angenommen, obwohl es wirklich das letzte ist, was ich machen wollte. Ich frage mich dann: «Was kann ich aus dieser für mich wirklich schwierigen Aufgabe machen?»
Wie gehen Sie an einen Kompositionsauftrag heran? Haben Sie eine bestimmte Arbeitsmethode?
Zwei Dinge müssen im vorab geklärt werden: Für welche Instrumente soll die Komposition sein? Also: Was ist das Material, mit dem ich arbeiten kann? Schwierig wird es, wenn die Komposition für ein Ensemble gedacht ist, dessen genaue Besetzung noch nicht feststeht. Wenn es also nur heisst: «Kannst Du uns ein Stück für vier oder fünf Instrumentalisten schreiben?» Der zweite Punkt betrifft die Dimension des Stücks: Soll es kurz sein, mittlere Länge oder abendfüllend? Das beeinflusst meine Herangehensweise, meine mentale Einstellung. Morton Feldman hatte eine sehr sinnvolle Regel: «Je länger ein Stück werden sollte, desto geringer war das Material, mit dem er zu komponieren begann.» Das ist sehr klug, denn es zwingt einen dazu, sich wirklich aufs Detail zu konzentrieren und zu versuchen, das Maximale aus der kleinsten Menge an Material herauszuholen. Es muß ja für drei Stunden Musik reichen. Wenn ich also an einem langen Stück arbeite, habe ich Feldmans Leitspruch im Kopf. Ein kürzeres Stück erfordert eine andere Haltung.
Gibt es zusätzliche Strategien?
Ich arbeite nicht, wenn es mir nicht danach ist. Ich muss in der richtigen Gemütsverfassung sein. Normalerweise komponiere ich am Morgen. Da bin ich frisch. Am Nachmittag lassen Aufmerksamkeit und Konzentration nach. Grundsätzlich gilt: Ich fange einfach an ohne großes Trara. Ich schreibe nicht am Klavier, gehe nicht in die Nähe des Instruments. Erst wenn ich schon etwas auf dem Papier habe, probiere ich es am Piano aus. Wenn es meinen Ansprüchen genügt, schreibe ich etwas mehr, und dann mache ich immer so weiter. Aus dem ersten ursprünglichen Gedanken erwächst das ganze Stück. Jeder kleine Abschnitt schafft den Kontext für den nächsten Teil, aber nicht im Sinne der Komponisten der Vergangenheit. Beethoven arbeitete mit Motiven, die er dann im Laufe einer Kompositionen entwickelte. Ich denke nicht auf diese Weise. Ich beginne, schreibe etwas, und denke dann: «Wie weiter jetzt?» Es geht also Stück um Stück in ziemlich kleinen Etappen voran. Ich komponiere auf Sichtweise. Und erst wenn dieser Prozeß stockt, denke ich: «Okay, wie kann es jetzt weitergehen?» Ich mache keine großartigen Entwürfe, die ich dann entwickle, sondern zimmere das Stück aus dem Augenblick.
Wie oft überarbeiten Sie eine Komposition, bis sie fertig ist?
Nicht oft. Manchmal fällt mir auf, dass z. B. die Arbeit der letzten beiden Tage, nicht meinen Qualitätsmaßstäben entspricht. Dann streiche ich alles durch und beginne von Neuem. Manchmal nehme ich auch Teile heraus, die mich nicht befriedigen. Wenn sich dadurch das Konzept der Gesamtkomposition verändert, kümmert mich das nicht. Die Teile, die funktionieren, bleiben erhalten. Daran arbeite ich dann weiter.
Welche Rolle kommt den Interpreten zu?
Das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret ist elementar für meine Arbeit. Wenn ich weiß, für welchen Musiker oder Musikerin ich schreibe, macht das die Sache einfacher. Die Perkussionistin Robyn Schulkowsky ist so ein Fall. Ich mag die üblichen Perkussionsinstrumente, die man in Musikgeschäfte kaufen kann, nicht besonders: Becken, Trommel, solche Dinge. Schulkowsky verfügt über dieses ganze Instrumentarium, dazu aber noch über ein riesiges Arsenal anderer Gegenstände, die alle einen ganz speziellen Klang haben: Schrottteile – die verrücktesten Sachen! Ich habe längere Zeit in Schulkowskys verschiedenen Studios verbracht und dort diese Klangerzeuger ausprobiert. Wenn ich dann für Perkussion schreibe, halte ich die Instrumentierung ziemlich offen, notiere vielleicht nur: Fell, Metall, Holz. Ich bin mir sicher, dass Robyn Schulkowsky, wenn sie das spielen wird, eine interessante Auswahl trifft. Sie weiß, was funktioniert! Wenn ich dagegen für Violine komponiere, mache ich genauere Angaben, weil ich ungefähr weiß, was man mit einer Geige machen kann und was nicht. Mein generelles Verständnis von der Rolle des Komponisten und Interpreten ist sehr altmodisch, wie im Barock bei Bach. Es gibt die Noten und nicht viel mehr. Bach ließ vieles offen und überließ die Entscheidung dem Interpreten. Er vertraute dem Instrumentalisten, dass er eine interessante Wahl treffen würde. Das bedeutet: Es gibt keine «richtige» Interpretation. Genau dasselbe gilt für meine Musik. Ich habe Probleme mit Instrumentalisten, die mich fragen: «Ist das so, wie Sie es wollen?» Normalerweise antworte ich darauf: «Ich weiß es nicht.» Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Der Interpret muss den für ihn stimmigen Zugang finden. Es besteht ein Unterschied zwischen der Musik auf dem Notenblatt und der der Konzertaufführung. Die Musik entsteht in einem Dialog zwischen der Partitur und dem Interpreten. Das ist wesentlich für mein Werk und nicht wirklich neu in der klassischen Musiktradition. Stücke werden in verschiedenen Tempi gespielt, anders phrasiert etc. Es gibt große Unterschiede. Das gleiche Stück dauert bei einem Interpreten 20 Minuten, bei einem anderen 25.
Robyn Schulkowsky
Es gibt Komponisten, die wollen die Kontrolle nicht aus der Hand geben….
Das stimmt. In den 1950er Jahren gab es Kompositionen, da wurde jeder einzelnen Note das kleinste Detail vorgeschrieben: die Dynamik, die Phrasierung – alles! Das kam mir schon damals ziemlich verrückt vor. Es verwandelt den Interpreten in eine Maschine. Er macht nichts anderes als reproduzieren. Für mich hat das nichts mit einer wirklichen Aufführung zu tun. Für mich ist die Musik erst Musik, wenn sie gespielt wird. Das ist ein Moment mit eigener Dynamik, eigener Vitalität usw. Ein Interpret wird es anders machen als der nächste, weil es verschiedene Menschen sind, die verschieden denken, verschieden fühlen. Es scheint mir angemessen, dass sich das in den Musik ausdrückt, die ich geschrieben habe.
Welche Konsequenz hat das für das Rollenverständnis des Komponisten?
Ich muß offen sein und Vertrauen in die Aufführenden haben. Außerdem muß ich Überraschungen akzeptieren. Ich habe auf diese Weise interessante Erfahrungen gemacht. Wenn mir etwas als vollkommen falsch erscheint, frage ich den Interpreten, aus welchem Grund er es so gespielt hat? Wenn er eine schlüssige Erklärung parat hat, dann ist es okay. Öfters ist es aber einfach ein Mißverständnis der Partitur und das läßt sich klären. Und wenn mir eine Interpretation wirklich nicht behagt, mache ich ein paar leise Bemerkungen, wie man es vielleicht anders phrasieren könnte, es vielleicht ein bisschen sanfter angehen könnte. Die meisten Interpreten sind offen für solche Ratschläge, oft sogar dankbar. Sie beklagen sich eher darüber, dass es nicht genug Anweisungen in meinen Partituren gibt. Es kommt darauf an, die richtige Balance zu finden zwischen meinen Vorgaben und der Verantwortung für die Musik, die ich den Interpreten übertrage.
Ist das die politische Dimension Ihrer Musik heute?
Das kann man so sehen. Die traditionelle Kompositionsweise ist hierarisch, top-down, meine ist eher partizipatorisch – demokratischer! Es setzt ein beiderseitiges Vertrauen voraus: Ich muß den Interpreten vertrauen und sie müssen mir vertrauen, dass die Partitur ihnen etwas gibt, mit dem sie arbeiten können und am Ende etwas Interessantes herauskommt.
Gibt es Konzertaufführungen Ihrer Werke, die Sie kreativ anregen?
Auf jeden Fall. Manchmal spielen die Interpreten Sachen, die ich nicht in Betracht gezogen habe, die aber Sinn machen. Um noch einmal auf die Perkussionstin Robyn Schulkowsky zu sprechen zu kommen: Sie macht oft Dinge, die ich nicht bedacht habe und es klingt meistens besser, als ich es mir vorgestellt habe. Das ist der Vorteil diese Arbeitsmethode, dass die Musik interessanter ausfällt, als ich ursprünglich gedacht habe, weil ich im Idealfall das Können, die Fähigkeiten und die Kreativität der Interpreten einbeziehe und diese natürlich ihr Instrument besser kennen als ich.
Die Interpreten werden von Ausführenden zu Beteiligten, zu Co-Autoren?
In gewissem Sinne: Ja! Eine Aufführung ist eine gemeinsame Anstrengung – eine Kooperation.
Das Interview entstammt dem Buch:
Christoph Wagner: Geistertöne – Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen (Schott / Edition Neue Zeitschrift für Musik; Mainz 2020), Euro 29,95
Mehr Infos:
http://christophwagnermusic.blogspot.com/search/label/GEISTERTÖNE
http://christophwagnermusic.blogspot.com/2021/11/geistertone-besprechung-in-der.html
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