Tuesday 21 April 2020

SIMON STEINER über DE FABRIEK aus Holland

GASTBEITRAG von SIMON STEINER:

Sandpapier und Meeresrauschen

Das niederländische Musikkollektiv DE FABRIEK  



DE FABRIEK ist ein Musiker - und Künstler Kollektiv, einfach eine "Gruppe von Menschen", sagt Mitgründer Richard. Bis heute hat diese Fabrik über 25 Produktionen veröffentlicht. DE FABRIEK kommen ursprünglich aus der niederländischen Stadt Zwolle. Das Kollektiv wurde 1977 von Richard van Dellen und Andries D. Eker gegründet. Sie fühlen sich von Terry Riley, Conrad Schnitzler und Philip Glass beeinflusst oder ließen sich von Bands wie Blues Dimension oder The Mozarts inspirieren. „Wir haben zu den Mozarts hochgeschaut. Sie hatten lange Haare, Umhänge und Mopeds mit hohem Lenker," erzählt Richard.

Richard van Dellen und seine Frau Louise Nanuru van Dellen kenne ich aus Griechenland. Sie wohnen in unserer Nachbargemeinde auf der Insel Evia (Euböa). Wir sitzen auf der Terrasse zwischen Olivenhainen, Wald und Meer und hören Musik. Richard erzählt, wie er früher immer rüber nach Deutschland getrampt ist, um tief in die deutsche Musikszene einzutauchen. Er ist fasziniert von CAN, von FAUST und von CLUSTER und kennt sogar die Tübinger Band FAMILIE HESSELBACH. Louise und Richard senden mir immer wieder Fotos, oder es kommt Post aus Zwolle, mal eine LP von DE FABRIEK oder eine alte wertvolle 80er Kassette, mal Schnipsel in DADA-Art, Süßigkeiten oder Postkarten, gestaltet in MAIL-art. Alles ist immer mit viel Liebe in Handarbeit entstanden. Die Cover bestehen aus Pizzaschachteln, alten Plakaten, Sandpapier, Plastik, Tapeten und Müllsäcke. Das Paar Van Dellen steht in der Tradition der Beatniks der sixties oder der Hippies und Punks der 70er und 80er Jahre, ja die beiden gehören zur frühen Undergroundszene, zu den sogenannten Kassettentätern, zur Noise-Szene und ich höre das auch alles heraus: Sounds der Hippie-Jahre, Punk und experimentelle Geräuscheschleifen. Ein totales Crossover also, durch fünf Jahrzehnte, ohne Berührungsängste, ohne Abwertungen und Ausgrenzungen. Weltoffen, alle Grenzen überschreitend. 

So ergibt sich schließlich auch zwischen uns eine Verbindung, wir kooperieren per pingpong-Verfahren: Ich sende ihnen Samples, field-recording Aufnahmen aus Vasilika oder Stuttgart und sie betten meine Klänge ein in nagelneue CD, ein Format, das für sie noch lebt und Bedeutung hat. Die  beiden leben Toleranz vor, sie erdulden alles und wollen nie Recht haben oder unbedingt etwas durchsetzen, sie gängeln mich nicht und sind nicht enttäuscht, wenn ich nicht liefere. Oft weiß ich nicht, was mit meinen Samples passiert und inwiefern sie mich für ihr Kollektiv vereinnahmen aber da muss ich durch. Und prompt erscheint wieder die nächste CD oder Schallplatte. 

Das Kollektiv war immer open minded und independent, nicht-kommerziell, mit eigenem Label und international vernetzt: Im Laufe der Jahre nahmen DE FABRIEK mit Solenoid, O.R.D.U.C., Technological Aquiver, Brume, Vivenza, Klinik und Gen Ken Montgomery auf. Und ja, sie sind auch hier in der Region Stuttgart bekannt: Oberst Graf Zentrich, DJ und selbst Musiker und Mitarbeiter bei meinem Punk-Projekt "Wie der Punk nach Stuttgart kam" legt sie auf, er ist Spezialist für Cold Wave und da passen die frühen DE FABRIEK wunderbar rein.

Über die gemeinsamen Jahre auf der griechischen Insel Euböa entwickelte sich nun eine wunderbare Freundschaft mit Louisa und Richard und wir sind ständig im Austausch. Wenn ich auf unserer Terrasse in Vasilika sitze, fährt nachts so um 22 Uhr immer ein Truck vorbei, ein riesiger LKW Klotz, mit tausenden von Lichtern und einer tiefen Hupe. Ich sehe ihn schon nördlich durch die Wälder geistern, dann unter mir auf der Landstraße unseren Ort durchqueren und schließlich wie er sich südlich in die Berge von Papades schiebt und schnauft und röhrt und mit seinen Scheinwerfern die Strecke nach Athen sucht. "So far" entsteht, mein neues Road-Stück. Und tatsächlich kennen Richard und Louisa den Truck, auch den Fahrer und sie haben ihn sogar kurz mit dem Handy gefilmt. Aus diesen Klängen schnipselte ich am PC eine neue Sound-Collage und ich freue mich schon, denn die Impression wird auf der nächsten DE FABRIEK CD erscheinen. 


Bereits erschienen ist mein Stück "Vassilika industries", das die Tonmeister des niederländischen Kollektivs im Studio verfeinerten. Letztes Jahr erschien eine Hommage an Griechenland: Die CD ARCHAIC, mit griechischen Klangdateien, meinem Baglamas und meinen Flöten.  Die CD entält super Material für weitere Kompositionen, für mixes und remixes, für weitere Collagen, das Material geht nicht aus und die Arbeit zu Hause - egal wo, insbesondere jetzt in Corona-Zeiten, am PC und zusätzlichen Instrumenten bietet alle Möglichkeiten des Kombinierens. Aber das Prinzip ist ja alt: Austausch, ein Miteinander, eine Community, die zusammen arbeitet und sich freut, ohne copyright, ein Hin - und Her ohne Eitelkeiten und Besitzansprüche. So soll es sein. 

Noch ein Erlebnis:
Meine Frau und ich fuhren von Ellinika nach Vasilika und im Autoradio hören wir DE FABRIEK, denn ein Musiknarr von Radio Volos hat sie mit ins Programm genommen. Oder Jean-Luc, ein französischer Freund von Van Dellens, steigt aus den Meereswellen und meint: "S! Ihr seit aus Stuttgart? Ich habe von Louise und Richard eine CD bekommen, da ist ein Stuttgarter mit dabei. Da ist man auf einer einsamen Insel in Hintertupfingen und werkelt mitten in DER FABRIEK, stets verbunden. Louisa spaziert vorbei und sammelt Strandgut für ihr nächstes Kunstwerk und Richard malt an seinem neuen Ölgemälde, das er  - wie unsere Musik - immer wieder umgestaltet und offen lässt.

Die fabrizierende Musikwelt dreht sich hier in Vasilika oder Stuttgart irgendwie immer weiter, in dieser Abgeschiedenheit und genau das war vor 40 Jahren das Motiv von DE FABRIEK - sich auszutauschen per Klänge, Postkarten, Briefe, Gedichte, Storys und Fanzines. Sagenhaft! 

In House, Dance, Techno oder Film Produktionen tauchen Elemente, die ursprünglich aus dem Hause der niederländischen Fabrik DE FABRIEK stammen wieder auf. 
Erfrischend! 
Und das ist noch lange nicht alles.




Musik: Simon Steiner/DE FABRIEK


Musik: Simon Steiner/DE FABRIEK

Fotos: DE FABRIEK

CD Cover: DE FABRIEK mit Simon Steiner u.a., 2019

Discografie, bandcamp und facebook siehe: 



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