Metropolenklänge in der Provinz
100 Jahre Donaueschinger Musiktage
Karlheinz Stockhausen
cw. Wie passt das zusammen? Eine Stadt mittlerer Größe im südlichen Schwarzwald gilt als wichtigstes Zentrum für zeitgenössische Musik weltweit, Klänge, die man sonst in Metropolen wie Berlin, New York, Wien oder Paris vermuten würde. Das hat Donaueschingen mit seinen „Musiktagen“ geschafft, ein Festival, auf das sich jedes Jahr im Herbst die Ohren der internationalen Avantgarde-Fans richten. Dieses Jahr feiert die Veranstaltung 100. Geburtstag.
Neue Musik gilt als schwierig, unzugänglich und elitär, Klänge für eine kleine verschworene Minderheit, die dennoch jedes Jahr immerhin zehntausend Besucher in die ehemalige Residenzstadt lockt, was nicht nur das Fremdenverkehrsamt und die Gastronomie freut. Auch für das Land Baden-Württemberg sind die „Donaueschinger Musiktage“ ein Aushängeschild.
Alles begann im Sommer 1921, in der Aufbruchzeit nach dem 1. Weltkrieg, als Heinrich Burkard – Musiklehrer der Fürstenfamilie zu Fürstenberg – mit finanzieller Unterstützung des Fürsten zu einem „Kammermusikfest“ in den südlichen Schwarzwald einlud und viele junge Komponisten Werke für die „Novitätenkonzerte“ einreichten. Ein Streichquartett von Paul Hindemith kristallisierte sich als das überzeugenste heraus. Doch das verpflichtete Musikensemble weigerte sich, die Komposition zu spielen, zu verquert erschien das Werk. Als Notlösung wurde daraufhin das Amar Quartett herangezogen, das dem Stück zu einem überwältigen Erfolg verhalf und von nun an als Hausensemble fungierte.
„Donaueschingen“ wurde in Folge immer mehr zu einem Synonym für neuste Musik, wenn auch der Standort ein paar Mal wechselte: 1927 fanden die Konzerte in Baden-Baden statt, 1930 in Berlin. Unter der Federführung des Komponisten Hugo Herrmann schlingerten die Musiktage durch die Zeit des Nationalsozialismus und kamen nach dem 2. Weltkrieg 1950 in die Obhut des Südwestfunks.
Mauricio Kagel: Zwei-Mann-Orchester, Donaueschingen, 1973 (Foto: Promo)
In der Nachkriegszeit wurden das Festival zu einem Forschungslabor atonaler Klänge, wobei alle tonangebenden Komponisten der Gegenwart zum Zuge kamen, die sich oft gegenseitig nicht grün waren. Von Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono über Hans Werner Henze, Yannis Xenakis und John Cage bis zu Ernst Krenek, György Ligeti und Mauricio Kagel – waren alle präsent, wobei auch die Vorväter wie Arnold Schönberg, Edgard Varèse oder Igor Strawinsky nicht vergessen wurden. Serielle Musik, Musique Concrète, New York School, elektronische Klänge, Third Stream, Klanginstallationen, Hörspiel – in Donaueschingen kam jede Richtung zu ihrem Recht, was nicht ohne Konflikte, Neid und Eifersüchteleien abging.
Nach zaghaften Versuchen mit einer sogenannten „Jazztime“ in den 1950er Jahren, gelang es 1967 dem Rundfunkredakteur Joachim Ernst Berendt eine „Jazz Session“ im Programm zu etablieren, was bei E-Musik-Puristen auf wenig Gegenliebe stieß, denen der Jazz als trivial galt. Dennoch schaffte es Berendt ein paar wegweisende Konzerte auf die Beine zu stellen: 1967 ließ das Globe Unity Orchestra mit großorchestralem Freejazz aufhorchen, 1970 absolvierte hier das Sun Ra Arkestra aus den USA eines seiner ersten Konzerte in Europa, und 1971 hielt mit der englischen Gruppe Soft Machine sogar der elektrische Jazzrock Einzug, was ein paar ältere Konzertbesucher veranlasste, wegen der brachialen Lautstärke fluchtartig den Saal zu verlassen.
Don Cherry mit Frau und Sohn sowie Joachim Ernst Berendt, Donaueschingen 1971 (Foto: Jörg Becker)
Natürlich war „Donaueschingen“ nicht unfehlbar – ganz im Gegenteil. Das Festival spiegelte das ganze Auf und Ab der zeitgenössischen Musik wider, war nicht gegen die Versuchungen der Mode und des Zeitgeists gefeit. Auch das „Altern der Avantgarde“ wurden hörbar. Nicht selten langweilte eine musikalische Moderne, die zwischenzeitlich als stinknormal empfunden wurde. Viele Komponisten verschwanden nach ihrem Auftritt in Donaueschingen bald wieder von der Bildfläche, etliche Werke schafften es nach der Uraufführung auf keine Bühne mehr.
Die Gefahr der Kürzung öffentlicher Fördergelder stellte vor ein paar Jahren die Existenz des ganzen Unternehmens in Frage, eine Krise, die inzwischen gemeistert zu sein scheint. Donaueschingen ist bereit für die nächsten 100 Jahre und die werden vermehrt im Zeichen von Diversität, Dekolonisierung und digital-elektronischer Musikfabrikation stehen, wobei Laptops, digitale Klangmaschinen und künstliche Intelligenz immer mehr das konventionelle Orchesterinstrumentarium verdrängen. Das Festival hat das Ohr in die Zukunft gerichtet, auch dieses Jahr wieder vom 14. – 17. Oktober.
Info: www.donaueschingen.de/musiktage
Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Bote, große Tageszeitung in Südwestdeutschland
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