„If you remember the sixties, you were not there!“
Nach 1968 entwickelte sich in Deutschland eine wilde neue Musik – die Buchneuerscheinung "Future Sounds" von Christoph Dallach zeichnet den Aufstieg des Krautrock nach
cw. Sie zogen raus aufs Land, quartierten sich in verlassenen Bauernhöfen oder leerstehenden Schulhäusern ein, wo man rund um die Uhr laut Musik machen konnte, ohne jemanden auf die Nerven zu gehen. Gelegentlich fuhren die jungen Bandmusiker am Wochenende im verbeulten VW-Bus in eine größere Stadt, um im Jugendzentrum oder einem alternativen Club ein Konzert zu geben, für Gagen, die kaum zum Leben reichten. Man lebte nach urkommunistischen Vorgaben, versuchte jegliche Konvention abzustreifen und suchten Transzendenz in psychedelischen Substanzen.
So oder ähnlich klingen die Überlieferungen aus der Zeit nach 1968, als in Westdeutschland eine neue Popmusik entstand, die weltweit bald unter dem Namen „Krautrock“ für Furore sorgte. Stars wie David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop oder die Red Hot Chili Peppers gaben sich als Bewunderer zuerkennen und ließen sich von den abenteuerlichen Sounds aus Germany inspirieren. Die innovativsten Klänge stammten von Gruppen, die sich Kraftwerk, Can, Faust, Tangerine Dream, Cluster, Neu! oder Amon Düül 2 nannten und international zu Bannenträgern des neuen Genres wurden, das bis heute weltweite Strahlkraft besitzt und immer neue Scharen junger Musiker beeinflußt.
Im Buch „Future Sounds“ beleuchtet der Musikjournalist Christoph Dallach diese bedeutende Weichenstellung der westdeutschen Popgeschichte. Dabei kommen vor allem solche Musiker zu Wort, die zum erste Mal nicht mehr englischen oder amerikanischen Vorbildern folgten, sondern sich um eigene Ausdrucksformen bemühten, bei denen Improvisation und Experiment im Zentrum standen. Diese Pfadfinder neuer Stilformen ließen mit Klängen aufhorchen, wie man sie bis dahin noch nie gehört hatte, ob wohligen Synthesizerelegien, motorischen Rockgrooves oder esoterischen Klangcollagen.
Can mit Sängerin Christine Lingh
Das Buch von Dallach besteht ausschließlich aus Interviews mit mehr als sechzig Zeitzeugen, die weder kommentiert noch erläutert werden. O-Ton-Schnipsel aus den Gesprächen bündelt Dallach geschickt zu thematischen Schwerpunkten. Es beginnt in den 1950er Jahren (Nachkriegsjugend, Jazz), dann wird die Jugendrevolte der 1960er Jahre (lange Haare, WGs, Drogen) umkreist, um schließlich in den 1970er Jahre zu landen, wo die Musik vollends in den Vordergrund rückt und die führenden Formationen sowie einflußreiche Persönlichkeiten wie Rolf Ulrich Kaiser und Conny Plank mit eigenen Kapiteln bedacht werden. Dem schließt sich ein Ausblick in die Zukunft an, bei dem die Bedeutung des „Krautrock“ für die Musikhistorie noch einmal unterstrichen wird.
Für Eingeweihte, die mit der Thematik und den Akteuren vertraut sind, mag dieses Patchwork-Verfahren einen gewissen Reiz besitzen, für Neueinsteiger kann es dagegen zu einem Wirrwarr aus Stimmen und Meinungen zerfransen. Zudem liegt bei dieser Art der mündlichen Geschichtsschreibung Dichtung und Wahrheit oft eng beieinander, weil nach so vielen Jahrzehnten die Erinnerungen mehr und mehr verschwimmen und verblassen. „If you remember the sixties, you were not there!“ warnt ein Spruch aus den Woodstock-Jahren. Die Tendenz zur Selbstbeweihräucherung und Eigenstilisierung einzelner Musiker ist dann auch unüberhörbar, gerät gelegentlich fast schon zur peinlichen Prahlerei.
Tangerine Dream, 1970 (Foto: Hudalla)
Im Fall von Kraftwerk stößt die Interview-Methode vollends an ihre Grenzen, da die Hauptakteure Ralf Hütter und Florian Schneider (1947-2020) seit langem keine Interviews mehr gaben, ja sogar die Frühphase der Band (inklusive der Vorgängergruppe Organisation) am liebsten aus den Geschichtsbüchern getilgt hätten. Andere Protagonisten sind bereits verstorben, so dass Dallach sich in diesen Fällen aufs dünne Eis des Hörensagens begibt.
Wenn sich der Leser dieser Schwächen bewußt ist und außerdem die Musiker-Statements mit einer Prise Salz goutiert, kann man die Veröffentlichung als materialreiche Quellensammlung mit Gewinn lesen, kommen darin doch noch einmal etliche Beteiligte ausführlich zu Wort, die – altersbedingt – bald nicht mehr ihre Sicht der Dinge darlegen können, wenn sie nicht – wie Dieter Moebius – zwischenzeitlich bereits verstorben sind.
Christoph Dallach: Future Sounds – wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Taschenbuch; 511 Seiten mit einigen SW-Fotos; 18 Euro
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