Sunday, 25 September 2022

Triadisches Ballett versus Ausdruckstanz

Im Tanzfieber

Vor hundert Jahren erlebte der Ausdruckstanz einen Boom – mit dem „Triadischen Ballett“ widersetzte sich Oskar Schlemmer der Mode

Oskar Schlemmers Triadisches Ballett (Staatsgalerie Stuttgart, Leihgabe 1979 Freunde der Staatsgalerie Stuttgart e.V.) 


 

cw. Am 30. September 1922 war es soweit: Nach jahrelanger Vorbereitung fand an jenem Samstagabend im kleinen Saal des Stuttgarter Staatstheaters die Premiere des „Triadischen Balletts“ statt – erdacht, entworfen und in Szene gesetzt von Oskar Schlemmer. In diesem „theatralischen Kostümtanz“ mutierte der Mensch zur abstrakten Kunstfigur, transformiert durch eine Aufmachung, die auf Formen wie Kugel, Kegel, Reifen, Scheiben und Trichter basierte. Schlemmer wollte „über den Menschen hinausgreifen“ und strebte deshalb eine „Entpersönlichung des Tänzers“ an. „Nicht nur das Gesicht trägt eine Maske, auch der Körper ist in eine Maske gesteckt, die das Erkennen einer menschlichen Figur nahezu verhindert,“ kommentierte eine Zeitung.

 

Mehr als zwei Jahre hatte der Stuttgarter Künstler, der kurz zuvor ans Bauhaus nach Weimar berufen worden war, mit Unterstützung von Albert Burger und Elsa Hötzel-Burger an der Realisierung des Stücks gearbeitet, wofür er in einem Cannstatter Hinterhaus einen Saal mit Bühne gemietet hatte. Aus Pappmaschee, Celluloid, Alufolie, Stahlblech, Drähten, Leder und Gummi wurden dort „seit einem halben Jahr Kostüme genäht“, wie Schlemmer in seinem Tagebuch notierte. Mit den roboterhaften Kunstfiguren zwischen „Automat und Marionette“ strebte er „die Entmaterialisierung der Körper“ an. Dann ging es an die Choreographie: Mit Hilfe des Ehepaars Burger, die zuvor Solotänzer am königlichen Hoftheater in Stuttgart gewesen waren, entwarf Schlemmer eine „Bodengeometrie“, erdachte Tanzwege, Gesten und Bewegungsformen.

 

Die Premiere war ein Ereignis, zu der extra eine Gruppe von Schülern und Kollegen vom Bauhaus aus Weimar angereist war, die für lebhaften Applaus sorgten. Nach der Rezitation von Auszügen aus Heinrich von Kleists Novelle „Über das Marionettentheater“, trat Schlemmer unter Pseudonym in sechs verschiedenen Rollen auf. Das machte einen rasanten Kostümwechsel nötig, den auch das Ehepaar Burger bewerkstelligen musste, was bei den schweren und starren Kostümen nicht leicht zu bewältigen war. Längere Pausen zwischen den einzelnen Szenen traten auf, auch lösten sich Teile von den Kostümen ab. 

 

Die Reaktion der Presse waren gespalten: Während manche das Stück über den grünen Klee lobten und – wie die Sonntags-Zeitung – von „märchenhaft entrückter Schönheit und von Erzeugnissen einer unerschöpflichen Phantasie“ schwärmten, konnten andere dem Triadischen Ballett „nicht den geringsten Geschmack abgewinnen“ und erhoben prinzipielle Einwände: „Der Mensch wird immer im Mittelpunkt des Tanzes stehen müssen und der menschliche Körper mit seinem unendlichen Formenspiel und seiner ungeheuren Ausdrucksfähigkeit wird stets das allein gültige Material sein,“ kritisierte das Karlsruher Tagblatt. „Niemals aber Maschinenkörper mit Kugel-, Schrauben- oder Flächenwirkungen.“

 

Schlemmer hatte mit dem „konstruktivistischer Tanz“ bewußt einen Kontrapunkt gesetzt, mit dem er sich der grassierenden Mode des Ausdruckstanzes widersetzte. Er grenzte sich bewußt vom „Körpertanz der Seelentänzerinnen“ ab, der damals als letzter Schrei galt und auf einer Welle der Begeisterung schwamm. Überall im Südwesten, vor allem in den städtischen Zentren, ob Stuttgart, Karlsruhe, Heidelberg, Baden-Baden, Freiburg i. B. oder Mannheim, schossen Kunsttanzschulen wie Pilze aus dem Boden. Allein in der württembergischen Landeshauptstadt existierten Ende der 1920er Jahre über zwanzig Tanzinstitute. 

Ausdruckstanz, 1923 (Sammlung C. Wagner)

 

Auftritte von führenden Persönlichkeiten der Szene steigerten die Begeisterung noch, ob es sich dabei um die „berühmte Barfußtänzerin“ Isadora Duncan im „dürftigen Tanzgewand“ handelte oder um Tanzstar Mary Wigman aus Dresden, die viel Publikum anzog. „Da eine große Anzahl von auswärtigen Besuchern, besonders aus Baden-Baden und Pforzheim, zu erwarten ist, wird um pünktliches Einnehmen der Plätze gebeten, damit die Auswärtigen rechtzeitig nach Schluß zum Zug kommen,“ mahnte 1926 die Presse in Karlsruhe. 

Ausdruckstänzerinnen, ca. 1920 (Sammlung C. Wagner)


Neben Duncan und Wigman war auch die „Loheland“-Schule ein Begriff. Die Lebensreformkolonie für Körperbildung, Landbau und Handwerk aus der Nähe von Fulda kam unter der Leitung von Louise Landgaard auf „Deutschlandfahrt“ gelegentlich auch zu Aufführungen in den Südwesten. Das Ziel: neue Schülerinnen für die Tanz- und Gymnastikausbildung des Reforminternats zu gewinnen, wobei gleichzeitig in einem ausgesuchten Ladengeschäft am Ort kunsthandwerkliche Arbeiten verkauft wurden. Für Frauen bildete der Beruf der Gymnastiklehrerin damals eine der wenigen Gelegenheiten zum Einstieg in eine selbständige Existenz. „Das Ziel ihres Unterrichts liegt nicht in der Bildung kraftstrotzender Muskeln, sondern in der Flüssigkeit, Flüchtigkeit und Bewußtheit jeder Bewegung,“ kommentierte Der Volksfreund 1925 ein Gastspiel in Karlsruhe. Das Publikum war begeistert und belohnte mit enthusiastischem Beifall die Darbietungen. Es war nicht zu übersehen: Die neuen künstlerischen Bewegungsformen zogen viele Frauen in den Bann und machten die 1920er Jahre zu einer Ära des Ausdruckstanzes.

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