Verpackungskünstler
Mit der Verhüllung des Berliner Reichstags machte Christo 1995 Furore – 1969 hatte er dafür in Heidelberg bereits geübt
cw. Es begann mit einem Disput. Die beiden Studenten Klaus Staeck und Jochen Goetze waren mit einer geplanten Jubiläumsausstellung des Heidelberger Kunstvereins nicht einverstanden, deren Konzeption ihnen zu brav vorkam. Sie entwarfen eine Gegenveranstaltung, die die aufgewühlten Zeit um 1968 widerspiegeln sollte und nannten sie: Intermedia 69.
Als einwöchiges Spektakel geplant, sollte das Festival den Stand aktueller Kunst präsentieren, ob Happening, Aktionstheater, Fluxus-Performances oder experimentelle Filme. „Aus der ewigen Provinz ausbrechen“, so umriß Initiator Klaus Staeck das Ziel. Die Intermedia wollte alle relevanten Avantgarde-Strömungen zu einem riesigen Gesamtkunstwerk vereinen. Sponsoren zu finden war nicht einfach. Der erste Spendenaufruf bracht nur magere 200 DM ein. Man war nahe daran, das Spektakel abzublasen. Doch als immer mehr prominente Künstler zusagten, stieg auch die finanzielle Unterstützung.
Am 16. Mai 1969 war es soweit. Klaus Staeck, später als Polit-Plakat-Künstler bekannt, hatte in den Monaten zuvor Dutzende Künstler eingeladen, ja persönlich besucht, um sie zu einer Teilnahme zu bewegen. Von Günther Uecker über Joseph Beuys bis zu Jörg Immendorf – alle machten mit. Doch der spektakulärste Coup war ihm mit Christo gelungen. Der Verpackungskünstler wollte in Heidelberg eine seiner ersten Gebäude-Verhüllungen realisieren, was, so Staeck, „zu einem der größten Abenteuer wurde, auf das ich mich je eingelassen habe.“
Christo Javacheff (1935-2020) machte in den Jahrzehnten danach durch aufsehenerregende Kunstaktionen Furore, wobei er jedes Projekt aus eigener Tasche finanzierte. Er verhüllte den Berliner Reichstag und den Arc de Triomphe sowie die Pont Neuf in Paris und verwirklichte die „Floating Piers“(=schwimmende Landestege) im nord-italienischen Iseo-See. Jede dieser Kunstaktionen zog Millionen von Zuschauern an, was Christo neben Picasso, Warhol und Banksy in den Olymp der Kunstgötter katapultierte.
1969 hatte der 33-jährige Emigrant aus Bulgarien, der damals bereits in New York lebte, schon ein paar kleinere Verhüllungsaktionen realisiert (darunter die Kunsthalle Bern), doch war ihm der Durchbruch noch nicht gelungen. Deswegen fand die Kunstaktion in Heidelberg – was Budget, Ausstattung, Vorbereitung und Durchführung betraf – auch unter amateurhaften Bedingungen statt.
„Ursprünglich wollten wir ein Studentenwohnheim verhüllen,“ erinnert sich Klaus Staeck. Als das auf Widerstand stieß, fragte man beim Heidelberger Schloß an, was nur „jähes Entsetzen“ (Klaus Staeck) auslöste. Nur das Amerikahaus zeigte sich aufgeschlossen. Mit 25 freiwilligen Helfern, zumeist Studenten, 1900 Metern weißer, reiß- und brennfester Plastikfolie, vielen Rollen Spezialklebeband, 900 Meter Draht und 450 Meter Seil wurde das Gebäude in der Heidelberger Innenstadt am Tag vor Eröffnung der Intermedia – dem 15. Mai 1969 – unter der Regie von Christo verpackt. Der Künstler war am Tag zuvor angereist.
Frühmorgens ging es los. Um 6 Uhr trafen sich die Teilnehmer zum Aufbau. Von den zwei Dutzend Studenten, die ihre Mitarbeit zugesagt hatten, waren allerdings nur fünf erschienen, weshalb eine Lehrerin mit ihrer Schulklasse einsprang. „Zunächst wurden die schweren Folienrollen aufs Dach geschleppt,“ erinnert sich Staeck. „Dort wurde unter Christos Anleitung Bahn um Bahn mühselig mit Draht aneinander geknüft.“ Dann wurde der erste Vorhang hinabgelassen. Doch schon nach ein paar Metern verfing sich die Riesenhaut an Zinnen und Vorbauten und musste „befreit“ werden, was nicht ungefährlich war, weil dabei ungeübte Laien hochoben auf dem Dach herumkletterten.
Nachdem das Problem behoben war, sausten bald Bahn um Bahn nach unten. Immer mehr Schaulustige fanden sich ein. Es wurde aufs Heftigste diskutiert, während Christo versuchte, die Folienbahnen mit Draht zusammenzuheften, um eine halbwegs glatte Oberfläche zu erzielen. Ein paar Helfer flochten ein Seil mehrmals um das Haus, um das Flattern der Folie zu unterbinden. Erst spät in der Nacht war die Verpackungsaktion abgeschlossen. Nun leuchteten die erhellten Fenster in magisch, milch-weißem Schein.
Im Unterschied zu seinen späteren Kunstaktionen, die immer makellos und formvollendet ausfielen, glich diese Verhüllung eher einem Notverband. Drei Tage blieb das Amerikahaus verpackt. „Wahrscheinlich war es Christos unvollkommenstes Werk“, rekapituliert Klaus Staeck, weshalb es auch in dessen Werkverzeichnis nicht auftaucht – mißglückt! Der Meister war mit dem Endprodukt ebenso wenig zufrieden wie die Presse. Von einem „grausigen Objekt“ war die Rede.
Doch trotz Kritik und Ablehnung hatte Heidelberg eine spektakuläre Kunstaktion erlebt, von der noch lange gesprochen wurde. Und Christo hatte eine, wenn auch negative Erfahrung gemacht, die ihn lehrte, seine Kunstaktionen sorgfältiger vorzubereiten. Sie bildete den Startschuß für eine steile Karriere, die ihn an die Spitze der internationalen Kunstszene beförderte mit avantgardistischer Kunst, die Millionen begeisterte.
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