Tuesday 9 January 2024

Anders gestimmt: Die Saxofonistin Anna Webber

Völlig entspannt

Die Saxofonistin und Komponistin Anna Webber über die Kunst, Komplexes einfach klingen zu lassen

 

 Anna Webber (Mitte vordere Reihe) mit ihrem Quintet (Promo)



cw. 1984 im kanadischen Vancouver geboren, ist Anna Webber seit 2008 Teil der pulsierenden Jazzszene von Brooklyn. Die Saxofonistin und Flötistin ließ immer wieder mit eigenen Bandprojekten aufhorchen – vom Trio bis zur Bigband. Mit einem Quintett, zu dem Lesley Mok (Schlagzeug), Adam O’Farrill (Trompete), Elias Stemeseder (Synthesizer) und Mariel Roberts (Cello) gehören, hat sie gerade das Album „Shimmer Wince“ veröffentlicht. Seine Besonderheit: Es wird ausschließlich in „reiner Stimmung“ gespielt, einem alternativen Tonsystem, bei dem die Dur- und Molldreiklänge nur reine Quinten (mit dem Frequenzverhältnis 3/2) und reine Terzen (mit dem Frequenzverhältnis 5/4 oder 6/5) enthalten. Hört sich komplizierter an, als es klingt. 

 

Warum haben sie ihr neues Album in reiner Stimmung (=just intonation) eingespielt?

 

Anna Webber: Die reine Stimmung ging mir schon länger im Kopf herum. Musik in „just intonation“ ist oft langsame, elektronische Drone-Musik. Mir schwebte etwas anderes vor. Dabei war mir wichtig, Musik zu machen, die nicht abstrakt ist, sondern einfach und natürlich. Das erforderte viel Probearbeit. Wir mussten die Musik total beherrschen, damit sie nicht angestrengt und verkopft, sondern völlig entspannt und selbstverständlich klingt.

 

Wie haben Sie sich in dieses alternative Tonsystem eingearbeitet?

 

AW: Ich habe zuerst viel Musik in reiner Stimmung gehört: Kompositionen neuer E-Musik. Auch streift man die reine Stimmung, wenn man beim Saxofon mit „falschen“ Grifftechniken oder Multiphonics arbeitet bzw. mit Vierteltönen, was ich immer wieder getan habe. Kurzum: Ich wollte mehr darüber wissen. Ich nutzte 2021 ein Stipendium der American Academy in Berlin, mich systematischer damit zu beschäftigen. Die Frage war: Gibt das etwas her für meine Musik?

 

Welche Hürden galt es zu überwinden? 

 

AW: Wichtig war erstmal, mit dem Tonsystem völlig vertraut zu werden. Es gibt elektronische Hilfsmittel, die es ermöglichen, sich in die Stimmung einzuhören und damit zu üben. Es erfordert viel Gehörbildung. Im zweiten Schritt ging es darum, Musiker und Musikerinnen zu finden, die bereit waren, sich darauf einzulassen, was viel Arbeit und viele Proben bedeutete. Auch in der Gruppe haben wir zuerst Gehörbildung betrieben. Danach hat sich jeder mit der reinen Stimmung an seinem Instrument befasst. Meine Mitmusiker musste die spezielle Notenschrift lernen, z. B. was bestimmte Zeichen bedeuten. Erst wenn man sich vollkommen selbstverständlich in diesem Tonsystem bewegt, kann man damit Musik machen. 


Anna Webber beim Komponieren





Wie fanden sie die Musiker und Musikerinnen für dieses Projekt?

 

AW: Nur Instrumentalisten, die ein Instrument mit flexibler Stimmung spielen, kamen in Frage, sonst funktioniert es nicht. Ein Klavier oder eine Orgel sind für reine Stimmung ungeeignet. Ich schaute mich in meinem Umfeld um und fragte dann Bekannte, ob sie bereit wären, die nötige Zeit zu investieren. Ich bin froh, dass ich Mitspieler und Mitspielerinnen gefunden habe, die sich darauf einlassen wollten und mir vertrauten, dass es letztendlich auch Spaß und Sinn machen würde. Meine Mitmusiker sind große Könner und geübt, neue Dinge zu lernen. Wir arbeiteten ein volles Jahr an der Musik, bevor wir ins Studio gingen. Das war notwendig, um mit der reinen Stimmung absolut vertraut zu sein.

 

Sie haben die Sache noch dadurch verkompliziert, dass ungerade Metren verwendet wurden. Warum?

 

AW: Ich hatte vor zehn Jahren ein Gespräch mit dem Drummer Sam Ospovat, bei dem es um die Beziehung von Intervallen zu Rhythmen ging. Wir unterhielten uns darüber, dass alle Intervalle auch Rhythmen sind. Man kann jeden gleichmäßigen Puls elektronisch so weit beschleunigen, bis daraus ein Ton in einer bestimmten Tonhöhe wird. Wenn ich jetzt einen Polyrhythmus, also zwei parallel laufende Pulsschläge, beschleunige, ergibt das ein Intervall. Es besteht also eine Beziehung zwischen Intervallen und Rhythmen. Und da ich mich bereits damit beschäftigt hatte, lang es nahe, darauf zurückzugreifen. Wir haben also die Frequenzverhältnisse der Dreiklänge im reinen Tonsystem in Rhythmen übersetzt. Mir kam das schlüssig vor.

 

Hört sich kompliziert an. Ist das nicht ein Widerspruch zu ihrem Anspruch, das die Musik einfach und natürlich klingt? Wie gelingt es, Komplexität in Einfachheit zu verwandeln?

 

AW: Mein erster Grundsatz beim Komponieren lautet: Klarheit! Natürlich hat auch das Mysteriöse seinen Reiz. Mir ist jedoch wichtig, meine Ideen klar zu kommunizieren. Die Zuhörer sollen verstehen, um was es geht. Die Herausforderung war: Die Komplexität so zu gestalten, dass sie nicht schwierig und abschreckend klingt.

 

Kann man das Album „Shimmer Wince“ als eine absichtliche Abgrenzung vom üblichen Jazzsound verstehen?

 

AW: Nein, das war nicht meine Absicht. Mir geht es vielmehr darum, Neues zu erlernen und zu entdecken. Ich bin neugierig und denke nicht in Schubladen, wenn ich komponiere. Mir geht es alleine um die Musik, weniger darum, wie sie stilistisch einzuordnen ist. Ich will Dinge erkunden, mich nicht zwanghaft von anderen abgrenzen.

 

Anna Webber: Shimmer Wince (Intakt)


Besprechung von 'Shimmer Wince':

https://christophwagnermusic.blogspot.com/2023/11/scheibengericht-24-anna-webber-shimmer.html

 

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