Anti-Ageing für die Avantgarde
Das Label Wergo hält seit einem halben Jahrhundert die zeitgenössische
Musik frisch
CW.In der Öffentlichkeit gelten die Namen Stockhausen und Cage als Chiffre
für avantgardistische Klänge. Für Kenner kommt ein weiteres Wort dazu: Wergo!
So heisst das Label, das sich seit den 60er Jahren unermüdlich für
zeitgenössische Konzertmusik stark gemacht hat. “Seit 50 Jahren neu!” lautet
dann auch nicht ohne Selbstirone das Motto, mit dem das Unternehmen nun ein halbes
Jahrhundert seines Bestehens feiert. Zum Geburtstag ist eine dicke CD-Box
erschienen, die neben der “Sonata für zwei Pianos” von Igor Strawinsky,
eingespielt im Gründungsjahr 1962, auch Schlüsselwerke von Stockhausen und Cage
sowie Luigi Nono und Dieter Schnebel enthält -
Wegmarken der Musik des 20. Jahrhunderts.
Arnold Schoenberg
1962 wurde das Label vom Baden-Badener Geschäftsmann Werner Goldschmidt
gegründet. Der kunstsinnige Mäzen verband die beiden ersten Silben seines Vor-
und Nachnamens und hob Wergo aus der Taufe. Nach Goldschmidts Plänen sollte
sich das Label ausschließlich der zeitgenössischen Musik widmen, die kaum zwei
Jahrzehnte zuvor noch von den Nationalsozialisten als “entartet” verfolgt
worden war und in der Bundesrepublik des Wiederaufbaus nicht gerade hoch im
Kurs stand. “Pierrot Lumaire” des Zwölfton-Erfinders Arnold Schönberg, der in
der NS-Zeit in die USA hatte fliehen müssen, machte den Auftakt. Das atonale
Melodrama von 1912 war genau 50 Jahre vor der Labelgründung entstanden.
Weitere bedeutende Werke der Moderne folgten. Auch erhielten junge
Talente in der “Studio-Reihe Neuer Musik” eine Chance. “Goldschmidt war in Deutschland
jahrelang der einzige, der moderne Musik per Schallplatte systematisch
herausgebracht hat,” lobte ihn der “Spiegel” und bescheinigte ihm für seine
Pioniertat “eine Menge Mut.”
1970 übernahm der Schott-Musikverlag in Mainz das Label und baute es zu
einer der international führenden Marken aus. Die qualitativ hochstehenden
Produktionen mit ausführlichen Informationen zu Werk, dem Komponisten und den
Interpreten legten die Latte hoch. Selbst in den USA merkte man auf, sodaß
einzelne Einspielungen ans amerikanische Nonesuch-Label lizenisert werden
konnten. Mauricio Kagel
Wergo nahm sich nicht nur den Vertretern der klassischen Moderne an oder
der Zweiten Wiener Schule, sondern veröffentlichte auch Schallplatten von
jungen Radikalen wie Mauricio Kagel und György Ligeti. Zufalls- und
Reihenkompositionen, elektronische Klänge oder avantgardistisches Musiktheater
– alles fand unter seinem Dach Platz.
Das Label hatte den Finger oft am Puls der Zeit, wobei es sich als nicht
gerade leicht erwies, aus dem Elfenbeinturm der neuen Musik auszubrechen und
ein breiteres Publikum anzusprechen. Mit den Elektronik-Pionieren Gottfried
Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen im Katalog, die heute bei jungen
Labtop-Musikern wieder hoch im Kurs stehen, hätte sich ein Remix-Projekt
eigentlich angeboten.
Mit der Musikbranche im Umbruch passte sich Wergo den neuen digitalen Realitäten an. Nach
Vinyl-Platte und CD sind inzwischen die meisten Aufnahmen auch als Download
erhältlich. Selbst Re-Issue aus dem über 600 Titel umfassenden Backkatalog kann
man vermehrt auf den iPod laden. Dabei bemüht sich Wergo, dem Niedergang der
Klangkultur durch das MP3-Format entgegen zu wirken und die Aufnahmen in
höherer Tonqualität anzubieten. “Ständig besser zu werden, ist noch immer der
Garant für das Überleben in einem schwieriger werdenden Umfeld,” umreißt
Geschäftsführer Rolf Stoll das Erfolgsrezept.
Mike Svoboda
Doch das Altern der Avantgarde bleibt ein Problem. Auch ist die
zeitgenössische Musik vor einer gewissen akademischen Verknöcherung nicht
gefeit. Stinknormale neue Musik gibt es zuhauf. Im Geburtstagsjahr erschienen
neben Produktionen junger Komponisten wie Benjamin Schweitzer, auch eine
Veröffentlichung von Mike Svoboda, die in eine andere Richtung weist. Der amerikanische Posaunen-Spezialist, der heute in Basel an der Musikhochschule
lehrt, präsentiert darauf die gewagtesten Avantgarde-Kompositionen so sinnlich,
unverkrampft und frisch, dass die Selbstironie im Jubiläumsslogan zum
Understatement wird. “Seit 50 Jahren neu!” - hört man Svoboda, glaubt man das
Wergo aufs Wort.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Wochenzeitung (WoZ), Zürich.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Wochenzeitung (WoZ), Zürich.
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