Gefühl und Verstand
Der amerikanische Saxofonist Steve
Lehman gibt dem Jazz eine intellektuelle Note
RADIO RADIO RADIO: Steve Lehman ist mit einer Saxofonimprovisation im Radiophon, SWR2, 8. November 2012 (21:03-22:00) zu hören RADIO RADIO RADIO
CW. Früher waren Jazzmusiker Naturtalente,
die im Selbststudium ihr Instrument erlernten. Durch unzählige Clubauftritte
reiften sie zu ausgebufften Ensemblespielern. Doch diese Zeiten sind längst
vorbei. Inzwischen sind solche Musiker, die vor allem mit Herz und Seele spielen,
selten geworden. Heute wird Jazz an der Hochschule studiert, wobei einige Musiker
sich zu waschechten Intellektuellen entwickeln, die jenseits der Musik noch in
anderen Wissenschaftssparten brillieren. Der amerikanische Saxofonist Steve
Lehman verkörpert diesen neuen Typ des ultramodernen intellektuellen
Jazzmusikers par excellence.
Steve Lehman (Jahrgang 1978) gilt
als einer der kommenden Stars der internationalen Szene. Der Saxofonist aus
Brooklyn hat einst beim Bebop-Meister Jackie McLean gelernt, später beim französischen
Komponisten Tristan Murail an der Columbia Universität in New York Komposition
und Spektralharmonie studiert, um nun an einer Doktorarbeit über französische
Literatur zu arbeiten und noch zusätzlich Lehrveranstaltungen zu geben. So aufs
Denken abonniert, ist es kein Wunder, dass Lehman in seiner Musik den Ausgleich
zwischen Verstand und Gefühl sucht, sich also bemüht, einen Mittelweg zwischen intuitiven
Improvisationen und ausgeklügelten Kompositionen zu finden.
Mit seinem Trio hat Steve Lehman
gerade ein bemerkenswertes Album eingespielt, das unter dem Titel “Dialect
Fluorescent” beim exquisiten New Yorker Label Pi Recordings erschienen ist. Am
7. Oktober gibt die Gruppe ein seltenes Gastspiel in Südwestdeutschland, wobei
sie im frischsanierten Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße Station macht –
einer der besten Adressen für hochkarätigen Jazz in Baden-Württemberg.
Vor 10 Jahren fand Lehman erstmals bei
einem größeren Publikum Beachtung, als er mit der Gruppe Fieldwork für Furore
sorgte. Überall wo die Gruppe auftrat, standen die Zuhörer Kopf. Zu dem
spektakulären Trio gehörte der Pianist Vijay Iyer, der inzwischen zu einem Star
geworden ist und wie Lehman als ein Exponent der neuen Intellektualität im Jazz
gilt: Die Doppelbegabung opferte eine vielversprechende Karriere als Physiker,
um sich vollkommen der Musk zu widmen.
Parallel zu Fieldwork entwickelte
Lehman seine eigenen Projekte. Er hob mehrere Gruppen aus der Taufe, die in
verschiedenen Besetzungen seine Kompositionen in Szene setzen. Vom Duo bis zur achtköpfigen
Minibigband reicht die Bandbreite. Sein Trio ist das Ensemble, dem der Saxofonist
derzeit die meiste Aufmerksamkeit schenkt.
In der Musik der Gruppe verschränken
sich vertrakte Rhythmen mit komplizierten Harmonien zu einem kompakten
Gruppensound, aus dem sich Steve Lehmans Altsaxofon immer wieder herauslöst und
zu fliegen beginnt. Kontrabass und Schlagzeug funktionieren wie eine feinjustierte
Präzisionsmaschine, wobei Damion Reid mit atemberaubenden Kapriolen eher an
einen Speed-Metal-Drummer erinnert.
Aus dem energiegeladenen Sog schält sich
ab und zu ein unbegleitetes Solo heraus, das sich dann mit Kraft Gehör
verschafft. Wenn nicht gerade ein moderner Jazzstandard anklingt, könnte einem
Lehmans Musik wie das Gegenstück zum aktuellen Math-Rock (= Mathematik-Rock) vorkommen.
“Math-Jazz” wäre dann die treffende Bezeichnung für diese Denkmusik, der es
dennoch an Ausdruckskraft nicht fehlt.
Steve Lehman Trio: Dialect Fluorescent (Pi Recordings)
Steve Lehman Trio: Dialect Fluorescent (Pi Recordings)
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