Thursday, 1 November 2012

Jazztrends: STEVE LEHMAN - Jazz mit Köpfchen



Gefühl und Verstand

Der amerikanische Saxofonist Steve Lehman gibt dem Jazz eine intellektuelle Note


RADIO RADIO RADIO: Steve Lehman ist mit einer Saxofonimprovisation im Radiophon, SWR2, 8. November 2012 (21:03-22:00) zu hören RADIO RADIO RADIO

CW. Früher waren Jazzmusiker Naturtalente, die im Selbststudium ihr Instrument erlernten. Durch unzählige Clubauftritte reiften sie zu ausgebufften Ensemblespielern. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Inzwischen sind solche Musiker, die vor allem mit Herz und Seele spielen, selten geworden. Heute wird Jazz an der Hochschule studiert, wobei einige Musiker sich zu waschechten Intellektuellen entwickeln, die jenseits der Musik noch in anderen Wissenschaftssparten brillieren. Der amerikanische Saxofonist Steve Lehman verkörpert diesen neuen Typ des ultramodernen intellektuellen Jazzmusikers par excellence.

Steve Lehman (Jahrgang 1978) gilt als einer der kommenden Stars der internationalen Szene. Der Saxofonist aus Brooklyn hat einst beim Bebop-Meister Jackie McLean gelernt, später beim französischen Komponisten Tristan Murail an der Columbia Universität in New York Komposition und Spektralharmonie studiert, um nun an einer Doktorarbeit über französische Literatur zu arbeiten und noch zusätzlich Lehrveranstaltungen zu geben. So aufs Denken abonniert, ist es kein Wunder, dass Lehman in seiner Musik den Ausgleich zwischen Verstand und Gefühl sucht, sich also bemüht, einen Mittelweg zwischen intuitiven Improvisationen und ausgeklügelten Kompositionen zu finden.

Mit seinem Trio hat Steve Lehman gerade ein bemerkenswertes Album eingespielt, das unter dem Titel “Dialect Fluorescent” beim exquisiten New Yorker Label Pi Recordings erschienen ist. Am 7. Oktober gibt die Gruppe ein seltenes Gastspiel in Südwestdeutschland, wobei sie im frischsanierten Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße Station macht – einer der besten Adressen für hochkarätigen Jazz in Baden-Württemberg.

Vor 10 Jahren fand Lehman erstmals bei einem größeren Publikum Beachtung, als er mit der Gruppe Fieldwork für Furore sorgte. Überall wo die Gruppe auftrat, standen die Zuhörer Kopf. Zu dem spektakulären Trio gehörte der Pianist Vijay Iyer, der inzwischen zu einem Star geworden ist und wie Lehman als ein Exponent der neuen Intellektualität im Jazz gilt: Die Doppelbegabung opferte eine vielversprechende Karriere als Physiker, um sich vollkommen der Musk zu widmen.

Parallel zu Fieldwork entwickelte Lehman seine eigenen Projekte. Er hob mehrere Gruppen aus der Taufe, die in verschiedenen Besetzungen seine Kompositionen in Szene setzen. Vom Duo bis zur achtköpfigen Minibigband reicht die Bandbreite. Sein Trio ist das Ensemble, dem der Saxofonist derzeit die meiste Aufmerksamkeit schenkt.

In der Musik der Gruppe verschränken sich vertrakte Rhythmen mit komplizierten Harmonien zu einem kompakten Gruppensound, aus dem sich Steve Lehmans Altsaxofon immer wieder herauslöst und zu fliegen beginnt. Kontrabass und Schlagzeug funktionieren wie eine feinjustierte Präzisionsmaschine, wobei Damion Reid mit atemberaubenden Kapriolen eher an einen Speed-Metal-Drummer erinnert.

Aus dem energiegeladenen Sog schält sich ab und zu ein unbegleitetes Solo heraus, das sich dann mit Kraft Gehör verschafft. Wenn nicht gerade ein moderner Jazzstandard anklingt, könnte einem Lehmans Musik wie das Gegenstück zum aktuellen Math-Rock (= Mathematik-Rock) vorkommen. “Math-Jazz” wäre dann die treffende Bezeichnung für diese Denkmusik, der es dennoch an Ausdruckskraft nicht fehlt.

Steve Lehman Trio: Dialect Fluorescent (Pi Recordings)

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