Thursday, 18 July 2013

Jazztrends: HENRY THREADGILL



Kopfmusik

Seit mehr als 40 Jahren folgt der amerikanische Saxofonist und Komponist Henry Threadgill den Tönen und Klängen in seinem Kopf. Daraus entwirft er eine höchst individuelle Jazzmusik, die sich stetig weiterentwickelt – Stillstand hält er für 
tödlich

Interview von Christoph Wagner

Henry Threadgill (Jahrgang 1944) hat große Ohren. Mit ihnen nimmt er alles auf, was sich musikalisch in seinem Umfeld bewegt, egal ob es sich um klassische Musik, Jazz oder ethnische Klänge handelt. Schon als Teenager hat er Saxofon in Blaskapellen gespielt, mit Zirkus- und Gospelgruppen gearbeitet, auch in den Clubs von Chicago Bluessänger oder Jazzsolisten begleitet. 1964 wurde er Mitglied der Experimental Band von Muhal Richard Abrams, die als Keimzelle des avantgardistischen Jazz in Chicago gilt.  Gleichzeitig trat Threadgill der schwarzen Musikerselbsthilfeorganisation AACM bei. Sein Plattendebut feierte er 1969 in den Band von Abrams.
In den 70er Jahren zog der Saxofonist, Flötist und Komponist nach New York, wo er mit dem Trio Air zu Prominenz kam. Air galt damals als eine der tonangebenden Gruppen der Ära nach der Freejazz-Revolution. Nach Air gründete Threadgill  eine Reihe eigener Formationen, um eine musikalische Konzeption zu verfolgen, die offen für unterschiedliche Stilelemente ist und die Grenze zwischen Komposition und Improvisation verwischt. “Ich möchte, dass die Musik uns in etwas hinüberträgt, weg von dem Zustand , in dem wir sind,” umreißt er seine Zielvorstellung. Als mosaikartig und labyrinthisch können seine feingliedrigen polyphonen Tongeflechte beschrieben werden, die in außergewöhnlichen Klangfarben schillern. Sein intuitiv anmutende Jazz besitzt eine kammermusikalische Sensibilität, ohne auf gelegentlich auch groovende Rhythmen zu verzichten. Ohne Frage - Threadgill ist ein Solitär. Einen wie ihn gibt es nicht noch einmal auf der internationalen Jazzszene.

Die Musik ihrer aktuellen Gruppe Zooid bewegt sich abseits der Jazzkonventionen. Wie kommen diese Klänge zustande? Wie entwerfen sie die Stücke?

Threadgill: Die Musik wird von mir nicht alleine geschaffen. Die Musiker meines Ensembles tragen alle dazu bei. Wenn wir an einem Stück arbeiten, geht es nicht darum, den Titel einfach bloß zu spielen, sondern ihn zu entdecken und zu erkunden – eine Art Forschungsarbeit! Wir wollen herausfinden, wo er uns hinführen kann und was wir dabei aufspüren können. Wir nähern uns der Musik mit einer Haltung, der die individuelle Unterteilung der einzelnen Instrumentalstimmen genauso wichtig ist wie die Gleichheit unter ihnen.

Wie funktioniert das konkret? Gibt es eine Methode?

Threadgill: Jedes Stück legt uns unterschiedliche Dinge nahe, die wir probieren können. Deshalb gibt es kein Schema, keine Routine, der wir folgen. Wir proben sehr viel und äußerst intensiv. Ich bringe die Komposition in einer bestimmten Form in den Proberaum. Aber das ist nicht die Form, nach der wir suchen. Die wird daraus erst entwickelt. Wir müssen untersuchen, experimentieren, probieren und forschen, wobei sich unterschiedliche Möglichkeiten und Wege ergeben, ein spezielles Stück zum Klingen zu bringen. Wir entdecken verschiedene Optionen und beschäftigen uns mit ihnen. Wenn eine funktioniert, kommt ein Stück zu sich selbst. Wir spielen eine Komposition nicht einfach nur herunter, sondern versuchen ihr Potential zu entfalten. Die jeweilige kompositorische Idee bildet nur den Ausgangspunkt.



Ihre Musik verwendet ausgefallene Klänge. In ihrer Gruppe Zooid gibt es Tuba, Cello und Akkordeon. Nicht gerade die typischsten Jazzinstrumente. Was ist die Faszination?

Threadgill: Ich hatte nie die fixe Idee von einer bestimmten, festgelegten Besetzung. Die Zusammensetzung eines konventionellen Jazzensemble habe ich nie akzeptiert. Das macht für mich keinen Sinn. Ich gehe also mit einer offenen Einstellung an die Musik heran. Es geht darum, welche Töne und Klänge ich in meinen Kopf höre, nicht darum, was gerade als traditionell oder modisch gilt. Und diese Töne in meinem Kopf verändern sich. Als ich noch mit meiner Gruppe “Make A Move” arbeitete, hörte ich bereits eine andere Musik. Ich bemühte mich herauszufinden, welche Instrumente ich da hörte. Ich meinte, eine chinesische Pipa zu erkennen und Steeldrums aus Trinidad. Aber irgendwie haute das nicht an. Ich versuchte weiter zu analysieren, was mir im Kopf herumschwirrte, was nicht einfach war. Oft mußte ich raten. Ursprünglich spielte eine Oud, eine Gitarre und ein Cello in meiner jetzigen Band, dazu eine Tuba. Als der Oud-Spieler uns verließ, ersetzte ich ihn durch eine Bassgitarre. Die Gruppe besitzt jetzt mit der Baßgitarre und der Tuba zwei Bassinstrumente, die aber oft nicht Bassstimme spielen, sondern sich eher in einer Bariton-Tenor-Lage bewegen.

Wieviel Freiheit geben sie ihren Musikern?

Threadgill: Alle Freiheit, die sie wollen.  Die Musik bestimmt, wieviel Freiheit jeder einzelne Musiker hat. Wenn man sich dagegen wehrt, was die Musik einem nahelegt, gerät man in eine Sackgasse. Man kann der Musik nichts überstülpen. Es muss sich organisch anhören, nicht aufgepfropft. Man muss sich in dem Rahmen bewegen, den das Stück gefühlsmässig und thematisch vorgibt, um es in seiner ganzen Tiefe entfalten zu können.

Welche Rolle kommt der Improvisation zu? Welche Aufgabe hat sie?

Threadgill: Ich schreibe meinen Musikern nicht vor wie sie ein Stück improvisatorisch zu interpretieren haben. Das ist ihre Sache. Ich sage ihnen höchstens, wie lange ein gewisser Improvisationsteil sein soll. Oft sind die Improvisationen nur kurze Einwürfe, keine langen Exkursionen, um nicht zuviel Aufmerksamkeit vom Stück abzuziehen. Jeder einzelne Musiker in der Gruppe trägt Verantwortung für das Ganze, und ich fahre niemandem in die Parade. Wichtig ist, dass viele unabhängige Aktionen stattfinden und die Instrumentalisten miteinander kommunizieren, jeder mit jedem. Alles ist mit einander verwoben.

Wie finden sie die Musiker für ihr Ensemble?

Threadgill: Ich gehe viel in Konzerte, höre mir einzelne Instrumentalisten an. Auch geben mir andere Musiker Tipps: ‘Da ist dieser Typ aus Timbuktu in der Stadt. Er spielt Musik auf Eiswürfeln. Den must du dir anhören!’ Also gehe ich hin. Ich war immer schon ein fleißiger Konzertbesucher. Ich gehe laufend zu Gigs, um neue Musiker auszuhorchen. Diese Art von Recherche gehört zu meiner Aufgabe als Bandleader. Das ist musikalische Vorsorge, denn wenn sich meine Musik verändert, kann es sein, dass ich ein paar dieser Musiker brauchen werde. Wenn meine musikalische Vision wechselt, muss ich Musiker kennen, die auf die neue Art und Weise spielen können, die ich mir vorstelle. Wenn man nicht dauernd rausgeht und sich umhört, fehlen einem die Kenntnisse, wer für eine zukünftige Band in Frage käme. Allerdings ist es ein langer Prozeß, die musikalische Sprache und Grammatik zu erlernen, die wir in meiner Gruppe pflegen. Das braucht Zeit. Bei meinem aktuellen Ensemble Zooid dauerte es ungefähr ein Jahr, um dieses gemeinsame Vokabular zu erarbeiten.

Wie ist die Szene in New York im Moment - gibt es ein genügend großes Reservoir an jungen Musikern?

Threadgill: Oh ja! Es gibt hier sehr viele talentierte junge Musiker. Ich versuche ihnen zu zeigen, dass man etwas nicht auf nur eine Art und Weise machen kann, sondern dass es eine Vielfalt an Möglichkeiten gibt. Jazz ist kein eindimensionaler Stil. Man braucht sich an niemandem zu orientieren und sollte auch keine andere Musiker kopieren. Im Gegenteil:  Jeder muss seinen eigenen Weg beschreiten. Das ist das Wichtigste: Die eigene Richtung zu finden!

                                                                          Air mit Steve McCall (Drums), Fred Hopkins (Baß) und Henry Threadgill (Sax)


In den 70er Jahren spielten sie mit der Gruppe Air. Gibt es Kontinuitäten ihres musikalischen Denkens, die bis in die Gegenwart reichen?

Threadgill: Selbstverstänlich ist mein indiviueller Fingerabdruck weiterhin vorhanden. Doch man entwickelt sich. Manche Charakteristiken bleiben, andere verändern sich. Man bewegt sich entlang einer Entwicklungslinie das ganze Leben lang. Ich gehe nie zu Vergangenem zurück. Wenn ich einen gewissen Entwicklungsperiode abgeschlossen habe, mache ich den nächsten Schritt. Sie ist dann abgehakt, etwas Neues wartet.
Allerdings dauert eine solche Entwicklungsetappe moistens recht lange. Damit bin ich Jahre beschäftigt. Mit Air spielte ich viele Jahre, ähnlich lange mit meinem Sextett, das sich daran anschloss. Danach kam ‘Very Very Circus’ und ‘Make A Move’ – alles Gruppen, mit denen ich sehr intensiv über einen langen Zeitraum gearbeitet habe.

Wie merken sie, dass eine Schaffensperiode zu Ende geht?

Threadgill:  Es gibt ein paar Indikatoren, die mir andeuten, dass ich eine gewisse Idee erschöpfend behandelt habe und es jetzt Zeit ist, sich etwas Neuem zuzuwenden. Ich will nicht stillstehen und ein Stilist meines eigenen Stils werden. Lieber gehe ich weiter. Im Gegensatz zu früher, als ich mit der Gruppe Air arbeitete, streben wir heute eine andere Balance zwischen Improvisation und Komposition an, auch ist die Musik anders organisiert. Manchmal ist es unklar, wann aus dem Augenblick heraus musiziert wird, weil sich Improvisation und komponiertes Material laufend vermischen und überlagern. Der Grenzen verschwimmen. Es ist ein Komponieren aus dem Augenblick entlang bestimmter Leitlinien.

Aktuelles Album:
Henry Threadgill Zooid: Tomorrow Sunny / The Revelry, Spp (Pi Recordings, 2012)

Auswahldiskographie:
Henry Threadgill Zooid: This brings us to; Vol 1 (Pi Recordings, 2009)
 Henry Threadgill Zooid: This brings us to; Vol 2 (Pi Recordings, 2010)

Das Interview erschien zuerst in der NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK.

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