Sunday 9 April 2023

Wie der Blues nach Südwestdeutschland kam

Bluesmetropole Urach

 

Vor 50 Jahren begann eine Konzertreihe, die Urach für fünf Jahre zu einer Blues-Metropole machte – Stars wie John Lee Hooker und Memphis Slim gaben sich ein Stelldichein

 



 

cw. In den 1960er und 1970er Jahren begeisterte Blues die Jugend. Rockbands wie die Rolling Stones oder Fleetwood Mac gaben den Anstoß. Sie ahmten schwarze Bluesmusiker wie B. B. King, John Lee Hooker oder Muddy Waters nach und brachten den Sound von den Baumwollfeldern aus dem amerikanischen Süden oder den Nachtclubs von Chicago in jede Teenager-Bude.

 

Auch in Bad Urach hatte der Blues seine Anhänger. Der größte Fan war Walter Gassner. Der Vorsitzende des Stadtjugendrings war von den Klängen aus dem amerikanischen Süden so begeistert, dass er deren Protagonisten unbedingt in Bad Urach präsentieren wollte.

 

Und ihm gelang das Kunststück. Zwischen 1973 und 1978 holte er eine beachtliche Riege afro-amerikanischer Sänger, Gitarristen und Pianospieler zu Konzertauftritten nach Urach: von akustischem Countryblues über Boogie Woogie bis zu elektrischem Rhythm & Blues, und von Blind John Davis über Willie Mabon bis zu Big Joe Williams, nicht zu vergessen Bukka White, der einst B. B. King das Gitarrenspiel beigebracht hatte. 

 

Gassner hatte den Ehrgeiz, internationale Bluesstars, die sonst nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt gastierten, den Fans in der schwäbische Provinz vorzustellen. Manche der Konzerte wurden zu Riesenereignissen und lockten – wie im Fall von Memphis Slim –  800 Zuhörer aus nah und fern an. Blues war in Urach Stadtgespräch. „In dem über zweistündigen Konzert, in dessen Pause der AFN Stuttgart Memphis Slim interviewte, muß man dem sehr sachverständigen Publikum wieder wie in all den vorhergehenden Blues-Veranstaltungen ein großen Kompliment machen. Es nahm das Gebotene voll auf, ging mit und machte am Ende des jeweiligen Vortrags seiner Begeisterung mit viel Applaus Luft,“ lobte die Lokalzeitung. 


Sonny Terry & Brownie McGhee, Urach 7.6.1975 (Photo: Sammlung C. Wagner)



 

Alle paar Monate fand zwischen 1973 und 1978 ein Blueskonzert statt, was den Name Urach bald in der Chicagoer Bluesszene zu einem Begriff machte. Dort im fernen Germany gäbe es eine begeisterte Fangemeinde, die vom Blues nicht genug bekommen könnte, erzählten sich die Musiker nach ihrer Rückkehr. Während sie daheim in verlotterten Kneipen vor kleinem Publikum spielten, wurde ihnen in Urach ein königlicher Empfang bereitet: Sie wohnten in adretten Hotels, wurden gut verköstigt und als Stars gefeiert. 

 

Zu einem besonderen Höhepunkt avancierte der Auftritt von John Lee Hooker am Sonntag, 20. Juni 1976 – als „Blues Super Knaller” und „größter Spitzenknüller” angekündigt. „Dem Stadtjugendring Urach ist mit der Verpflichtung von John Lee Hooker ein großer Wurf gelungen. Es liegt nun mit bei den Bluesfans, dieses Risiko zu honorieren,” wurde in der Lokalpresse die Werbetrommel gerührt.

 

Wegen des vermuteten großen Andrangs war man vorsorglich in die neu errichtete Ermstalhalle gezogen. Dort musste der Fußboden allerdings mit einer Plastikplane abgedeckt werden aus Angst vor einer Beeinträchtigung des Belags. „Außerdem bittet die Stadtverwaltung alle Besucher, möglichst mit Turnschuhen zu kommen und vor allem das Rauchverbot in der Halle zu beachten. Gleichzeitig hofft die Stadtverwaltung wie der Veranstalter, daß die Besucher des Konzerts nicht irgendwelche mutwilligen Beschädigungen verursachen, damit es der Stadt möglich ist, auch in Zukunft Großveranstaltungen in der Ermstalhalle durchzuführen,” lautete ein Appell an die Bluesfans in der Lokalpresse.

 

Allerdings stand der Auftritt von John Lee Hooker unter keinem guten Stern. Nach Freiburg, Köln und Frankfurt sollte der Bluesgigant am 20. Juni 1976 in Urach gastieren, was sich als Tag des Endspiels der Fußball-Europameisterschaften herausstellte. Um einen Flop zu vermeiden, wurde der Beginn des Konzerts von 20 Uhr abends auf 16 Uhr nachmittags vorverlegt, was sich für die vielbeschworene Bluesatmosphäre als nicht günstig erwies. Unter den nur etwa 500 Fans – man hatte eigentlich Tausend erwartet – wollte in der kahlen Sporthalle kein richtiges Blues-Feeling aufkommen. Das konnte kaum verwundern, war doch der Saal von sommerlichem Sonnenlicht durchflutet, welches durch die mächtige Fensterfront einfiel, vor der die Bühne aufgebaut worden war. Von schummrigem Bluesambiente keine Spur, Lichtjahre entfernt von einem rauchigen Bluesclub irgendwo an einer staubigen Landstraße im Süden der USA oder auf der Southside von Chicago. 


Volle Säle beim Blues in Urach, 1975 (Sammlung C. Wagner)



 

Doch das war nicht die einzige Enttäuschung. Auch der Blues von John Lee Hooker klang anders als die Klänge, die man erwartet hatte. Hooker spielte weder den akustischen Countryblues, noch den elektrischen Rhythm & Blues, sondern einen Blues moderneren Zuschnitts, der Stilelemente aus Soul, Rock und Funk aufgenommen hatte, was den jugendlichen Besuchern gar nicht passte. Das Publikum wollte „unverfälschten“ Blues hören: „Gemessen an seinen Schallplatten erfüllte John Lee Hooker die in ihn gesetzten Erwartungen als Bluesmusiker keineswegs, zumal viele Teile eher als „Soul“ zu bezeichnen waren“, kritisierte die Lokalzeitung. 


 

Der jugendliche Konzertveranstalter Walter Gassner ließ sich von der Kritik nicht entmutigen und organisierte auch nach dem Flop weitere Bluesauftritte. 1978 fuhr er sein Engagement beim Stadtjugendring allerdings zurück, was das Ende der Konzertreihe bedeutete. Fünf Jahre lang hatte Bad Urach als Bluesmetropole geglänzt.


Der Artikel erschien zuerst im GEA - Reutlinger Generalanzeiger

 

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