Wednesday 12 April 2023

Zum Tod von Karl Berger (30. März 1935 – 9. April 2023)

Erkundungen in Klang und Rhythmus

 

Mit dem Creative Music Studio machte der deutsche Jazzmusiker KARL BERGER in den siebziger Jahren in den USA Furore – sein Einfluss wirkt bis heute 




 

Interview von Christoph Wagner

 

Karlhanns Berger gehörte zu der Handvoll von Musikern, die den modernen Jazz in Westdeutschland etablierten. Der Vibrafonist und Pianist knüpfte Kontakte zu amerikanischen Improvisatoren, um Ende der sechziger Jahre nach New York zu ziehen. Anfang der siebziger Jahre gründete er mit seiner Frau, der Vokalistin Ingrid Sertso, das Creative Music Studio in Woodstock in Upstate New York, eine freie Musikakademie in privater Trägerschaft, die zu einem Zentrum der internationalen Jazz-Avantgarde wurde.  Musiker wie Ornette Coleman, Don Cherry, Anthony Braxton, Jack DeJohnette, Lee Konitz und Frederic Rzewski unterrichteten dort. Neben seinen Aktivitäten als Jazzmusiker und Pädagoge, hat sich Berger als Arrangeur einen Namen gemacht. Er war an Produktionen von Popstars wie Jeff Buckley, Natalie Merchant und Angelique Kidjo beteiligt.

 

Sie waren zu Beginn ihrer Karriere eng mit dem ‘Cave 54’ in Heidelberg verbunden. Welche Bedeutung hatte dieser Jazzclub für Ihre musikalische Entwicklung?

 

Karl Berger: Das ‘Cave’ war ein ganz spezieller Club. In Heidelberg war ja das Hauptquartier der amerikanischen Truppen und im Umland befanden sich jede Menge militärische Stützpunkte, die alle ihre eigenen Bands hatten. In diesen ‘Army-Bands’ spielten einige hervorragende Jazzmusiker: der Schlagzeuger Lex Humphries, der Pianist Cedar Walton, auch Don Ellis und Carlos Ward. Im ‘Cave’ war faktisch jeden Abend eine Session. Es war, als wäre man in New York. Ich war klassischer Pianist, hatte schon ein bisschen improvisiert und gehörte im ‘Cave’ zur Hausband. Das bedeutete, dass ich jeden Abend – außer montags – sechs bis sieben Stunden mit diesen amerikanischen Musikern jammte.

 

Welchen Erfahrungen machten Sie dabei?

 

Karl Berger: Es war wie eine Erleuchtung, von diesen Musikern aus erster Hand zu lernen. Es gab ja damals kein Material, um Jazz zu erlernen, keine Noten - nichts! Umso fantastischer war die Möglichkeit, mit amerikanischen Jazzmusikern zu spielen. Die Leute, die in diesem Keller auftraten, verfügten über ein Repertoire an Standards, die man auf der Bühne lernte. Wir spielten oft bis fünf Uhr morgens. Das ‘Cave’ war ein Studentenclub und immer voll. Auch früh morgens war noch Publikum da.

 

Wie schafften Sie den Sprung auf die nationale und wenig später auf die internationale Bühne?

 

Karl Berger: 1960/61 holte mich der österreichische Saxofonist Hans Koller in seine Band. Neben der Gruppe von Albert Mangelsdorff war das die einzige Band auf der deutschen Szene, die auch international auftrat. Wir waren beim Antibes Jazzfestival und in Paris – überall! 

 

Sie begannen als Pianist, wie kamen Sie zum Vibrafon?

 

Karl Berger: Ich hatte auf dem Konservatorium in Heidelberg klassisches Piano studiert. Das Vibrafon war eher ein Spielzeug, das zum Klavier dazu kam. In Heidelberg war ein Vibrafonist, der sein Instrument im ‘Cave’ stehen hatte und nur ein oder zwei Mal in der Woche zum Spielen in den Keller kam. Weil das Klavier im Club immer verstimmt war, habe ich angefangen, auf diesem Vibrafon zu spielen. Was mir besonders gefiel: Man konnte sich beim Vibrafonspielen bewegen. Auf Tour mit Hans Koller traf ich in Frankreich den Vibrafonisten Michel Hausser. Von ihm kaufte ich das Instrument, das ich heute noch spiele. 

 

Sie kamen in Kontakt mit dem Kornettisten Don Cherry, damals ein Leuchtstern der Jazz-Avantgarde…

 

Karl Berger: Ich traf Don Cherry in Paris im Buttercup Café, das von der Frau de Jazzpianisten Bud Powell betrieben wurde. Ich erkannte ihn vom Foto auf dem Ornette Coleman Album ‘This is our music’. Dann habe ich etwas gemacht, was ich noch nie gemacht hatte und seither auch nicht mehr wieder getan habe: Ich ging einfach zu ihm hin, stellte mich vor und sagte, dass ich gerne mit ihm spielen würde. Er sagte: ‘Okay, die Probe ist morgen um halb fünf.’ Und nannte mir den Ort. Nach dieser Probe habe ich die nächsten drei Jahre fast jeden Abend mit Don Cherry gespielt. Wir begannen im ‘Chat Qui Peche’, einem wichtigen Jazzclub, wo ich zuvor schon mit Woody Shaw, Chet Baker, Nathan Davis und anderen Musikern aufgetreten bin.


Karl Berger Anfang der 1970er Jahre (Foto: Jörg Becker)

 

Gab es Dünkel der amerikanischen Jazzmusiker gegenüber den deutschen Kollegen?

 

Karl Berger: Nicht im Geringsten! Die einzige Frage war, ob jemand spielen konnte. In Deutschland gab es gute Musiker, etwa Hartwig Bartz, das war der Schlagzeuger im ‘Cave’. Der stand für Qualität! Die amerikanischen Jazzmusiker aus der Armee waren ja alle noch sehr jung - so um die zwanzig. Die hatte keine Allüren.

 

Wie kamen Sie in die USA?

 

Karl Berger: Mit Don Cherry! Er hatte einen Vertrag mit der Plattenfirma Blue Note und sollte in New York das Album ‘Symphony for Improvisers’ aufnehmen. Ornette Coleman hatte für uns ein Konzert in der New York Town Hall organisiert und wir spielten außerdem im Jazzclub ‘Five Spot’. Ich blieb eine Zeitlang in den Staaten, kehrte dann aber wieder nach Deutschland zurück, um eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Die nächsten eineinhalb Jahre lebten meine Frau und ich wieder in Heidelberg, bis wir eine ‘green card’ für die USA bekamen. Ich hatte damals eine Band mit dem Schlagzeuger Allen Blairman, dem Bassisten Peter Kowald und meiner Frau Ingrid Sertso.

 

Viele europäische Jazzmusiker wie z.B. Albert Mangelsdorff schreckten vor dem Sprung nach Amerika zurück. Waren Sie mutiger? 

 

Karl Berger: Nein, es hat sich eher so ergeben. Ich sah, dass viele der kreativsten Musiker damals aus den USA kamen. In Europa war die Szene sehr klein. In den sechziger Jahren konnte man die vergleichbaren modernen Jazzmusiker in Deutschland an zwei Händen abzählen. Allerdings sahen wir auch, unter welchen schlimmen Bedingungen die Jazzmusiker in den USA lebten und welchen geringen Stellenwert der Jazz dort in der Gesellschaft besaß. Das war erschreckend! Zum Glück fand ich gleich einen Job. Wir traten regelmäßig in Schulen auf. Unsere Band bestand aus dem Saxofonisten Sam Rivers und Reggie Workman am Baß. Manchmal saß Chick Corea am Piano. Diese regelmäßigen Schulkonzerte halfen anfangs, über die Runden zu kommen. Durch die Auftritte kam mir die Idee des Creative Music Studios. Wir spielten vor zwölfjährigen Schülern und sahen, dass sie völlig unvoreingenommen an unsere Musik herangingen. Ich erkannte, dass jeder Mensch eigentlich offen ist, was Sound angeht und Musik überhaupt. Und dass die Kategorien, in die man Musik zwängt, erst später im Leben auftauchen. Es wurde mir klar, dass da viel Freiraum ist, um Musik anders zu lernen, anders als sie überlicherweise in Schulen gelehrt wird.

 

Als sie das Creative Music Studio in Woodstock im Bundesstaat New York gründeten, war es da schwer, Lehrkräfte unter ihren Musikerkollegen zu finden?

 

Karl Berger: Überhaupt nicht – im Gegenteil. Alle verstanden sofort, um was es ging. Jedem war klar, dass die Kategorien,  Musik in verschiedene Schubladen einzuteilen, von der Industrie erfunden wurden zur Verkaufsförderung. Musiker denken nicht so, deshalb verstand jeder sofort unseren umfassenden Ansatz.

 

Und wie wurden die praktischen Dinge im Creative Music Studio organisiert? Unterkunft, Proberäume?

 

Karl Berger: Wir hatten zuerst ein großes Haus, das früher eine Scheune war. Da gab es einen großen Raum, wo die Sessions stattfanden. Die Teilnehmer waren außerhalb untergebracht und die Dozenten, die am Anfang unterrichteten wie Anthony Braxton, Jack DeJohnette oder Dave Holland, die wohnten alle sowieso in der Umgebung von Woodstock. Und von New York City ist es ja nicht allzu weit: nur zwei Stunden mit dem Auto, also leicht erreichbar.

 

Was war die übergreifende Idee?

 

Karl Berger: Die Grundidee ging von der Frage aus: ‘Was machen wir als frei improvisierende Musiker eigentlich?’ Freie Musik machte für uns Sinn. Vom Feeling her war es gar keine Frage, dass spontane Improvisation funktionierte. Wir wollten herausfinden, warum das so ist. Und wenn man über Musik nicht in Stilen denken will, also hier Klassik, da Jazz, dort Rock, dann stellt sich die Frage: ‘Was ist aller Musik auf der Welt gemeinsam?’ ‘Was ist die gemeinsame Wurzel?’ Dem wollten wir in der Praxis auf den Grund gehen, ohne in stilistischen Schablonen zu denken. In den Jazzlehrprogramme an Musikhochschulen, von denen es damals noch nicht viele gab, wurden die Studenten immer sofort in einer bestimmten Stilistik trainiert. Das war, wie wenn man beim Hausbau mit dem ersten und zweiten Stock beginnen würde, anstatt mit dem Fundament und Erdgeschoß. Unsere ersten Erkundungen betrafen Sound und Rhythmus - die Grundelemente alle Musik. 


Karl Berger (Mitte) mit Don Cherry (rechts) (Sammlung C. Wagner)


 

Wie schlug sich dieses Prinzip im Lehrprogramm nieder?

 

Karl Berger: Ich habe ein Programm entwickelt namens ‘Basic Practice’, in welchem wir die Prinzipien praktizierten, die unabhängig sind von jeder Art von Stilistik. Das fängt an mit Rhythmik, Dynamik, mit Sound und Obertönen, mit Harmonik. Damit beschäftigten wir uns praktisch, nicht theoretisch. Man erfährt dadurch, dass es eigentlich einen Ton gar nicht gibt. Es gibt nur Sound, der sich auch nie wiederholt und dem man im Spiel auf den Grund gehen kann. Erst in diesem Prozeß kann sich eine persönliche Stilistik entwickeln. Da finden Musiker heraus, wie sie mit diesen Dingen umgehen. Daraus entsteht dann die Eigensprache jedes Musikers. Selbst wenn man danach in speziellen Stilistiken spielt, merkt man, dass dieser Eigencharakter immer präsent ist. Das macht einen Musiker erkennbar. Darauf kam es mir an.

 

Was war das Verhältnis von Einzel- und Gruppenunterricht?

 

Karl Berger: Am Vormittag beschäftigten wir uns mit ‘Basic Practice’. Da haben wir rhythmische Übungen gemacht zum Teil sogar ohne Instrumente, danach Oberton-Übungen usw. Am Nachmittag haben die Dozenten mit den Studenten gearbeitet - drei oder vier Stunden. Es wurden Kompositionen erarbeitet, wobei jeder Dozent nach seiner eigenen Methode vorging. Das erzeugte gelegentlich etwas Verwirrung, was ich ‘creative confusion’ nannte, denn wenn Lee Konitz unterrichtete, wurde etwas ganz anderes erzählt, als wenn Anthony Braxton an der Reihe war. Die Studenten nannten wir Teilnehmer, weil die Lehrkräfte auch von ihnen lernten. Der dritte Teil war dann abends und in der Nacht, wo die Teilnehmer unter sich ihre eigene Musik entwickelten. Das Ganze wurde am Wochenende in Konzerten aufgeführt und auch aufgenommen. Es gab zwei Konzerte pro Woche. Am Freitagabend stellten die Teilnehmer mit den Dozenten ihre Musik vor und am Samstag spielten die Dozenten miteinander in allen möglichen Kombinationen und präsentierten außerdem ihre eigenen Kompositionen mit den Studenten.

 

Waren die Konzerte nur für die Beteiligten gedacht oder auch für die Allgemeinheit bestimmt?

 

Karl Berger: Die Konzerte waren öffentlich und fast immer voll. Es kam ganz normales Publikum, nicht nur Jazzfans. In unserem ersten Haus waren wir nur ein Jahr. Dann zogen wir in ein größeres Gebäude und danach in ein Motel mit zwanzig Hektar Land und sechs Häusern sowie einem Hauptgebäude, wo auch ein Konzertsaal war mit Aufnahmestudio. Das hat sich rasend entwickelt.


Karl Berger & Kirk Knuffke, 2015 (Youtube)



Wie war der Zuspruch?

 

Karl Berger: Dadurch, dass das Creative Music Studio so einzigartig war, wurden unsere Pressemitteilungen überall abgedruckt und dadurch kamen genügend Studenten.

 

Wie sah die finanzielle Situation des ‘Creative Music Studios’ aus?

 

Karl Berger: Wenn Jimmy Carter 1980 Präsident geblieben wäre anstelle von Ronald Reagan, dann wären wir heute noch dort. Aber die ‘Reaganomics’ haben uns die Luft abgedreht. Unter Carter konnten wir selber Studentenvisas ausstellen, was es einfach machte, für Studenten aus Europa zu kommen. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer kam aus Europa. Hunderte von jungen Musikern nahmen an Kursen teil, ob aus Japan, Südamerika oder Europa – von überall her. Gelegentlich waren die amerikanischen Studenten in der Minderheit. Als Reagan an die Macht kam, war es damit vorbei. Die Studenten aus Europa konnten jetzt nur noch quasi illegal als Touristen einreisen.  

 

Ging es mit dem Creative Music Studio trotz Reaganomics weiter?

 

Karl Berger: Ja, wir versuchten weiterzumachen und haben dadurch eine Menge Geld verloren. An den Schulden zahlen wir heute noch ab.

 

Sind Sie eigentlich amerikanischer Staatsbürger geworden?

 

Karl Berger: Nein. Da geht es mir wie Wim Wenders , der einmal sagte: Je länger ich hier bin, desto weniger bin ich Amerikaner!  Wir haben einen Wohnsitz in Deutschland in der Nähe von Frankfurt und sind regelmässig dort. Ich bin Mitglied der Union deutscher Jazzmusiker und war zehn Jahre in Frankfurt a. M. an der Musikhochschule tätig, wo ich eine Professur hatte. Es war für uns seit Mitte der achziger Jahre eine sehr gespaltene Angelegenheit: ‘Wo sind wir zu Hause?’ ‘Wo wohnen wir eigentlich?’  Ich nutze die Arbeitsmöglichkeiten auf beiden Kontinenten so gut ich kann  Das Arbeitsfeld für improvisierende Musiker  hat sich drastisch verändert. Viele der besten Musiker sind zwischen den Kontinenten unterwegs. Ich konzentriere mich auf die neue Phase der Creative Music Studio Workshops und biete auch mehr Workshops in Europa an, bisher hauptsächlich in der Schweiz. Ich glaube, dass Workshops, in Verbindung mit Konzerten, die sich auch an Laien und potentielle Hörer richten, immer wichtiger werden und auch gefragt sind. In diesem Bereich will ich mich in Deutschland mehr engagieren. Wir arbeiten an einer  Neugründung der Creative Music Foundation in Deutschland, die es ja in den 70er Jahren schon einmal gab.  

 

Gibt es aktuelle Projekte?

 

Karl Berger: Ich war in das Eric Dolphy-Projekt ‘So long, Eric!’ involviert, das unter der Leitung von Alexander von Schlippenbach und Aki Takase im Juni 2014 zu Dolphys 50. Todestag stattfand. Dolphy starb 1964 in Berlin. Meine Frau Ingrid Sertso und ich haben damals in Berlin das letzte Konzert mit ihm gespielt. Wir hatten ihn Jahre zuvor im ‘Chat Qui Peche’ in Paris kennengelernt und luden ihn für die Eröffnung des Jazzclubs ‘Tangente’ nach Berlin ein. Er kam, konnte aber nur noch an einem Abend spielen - drei Tage später war er tot. Er starb an einer unerkannten Diabetis. Darüber hinaus leite ich weiterhin das Karl Berger Improvisers Orchestra, das seit 2011 über 70 Aufführungen absolvierte, immer mit Workshop-Anteil. Das Orchester besteht aus 20 bis 30 professionelle Musiker aller Instrumentalgruppen. Daneben führen wir die Arbeit in Woodstock fort mit Creative Music Studio Workshops zweimal im Jahr. 


 

Weitere Informationen: www.creativemusicfoundation.org

 

 

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