Die Dehnung der Zeit
Mit minimalistischen Strategien gehen Musiker aus unterschiedlichen Stilen gegen
die Zeitkrankheiten Hektik und Hyperkomplexität an - Reduktion und Einfachheit
werden neu entdeckt
Low machen Slow-Core
cw. Ihr Bandname steht für “low speed” und “low volume”. Vor zwanzig Jahren
gegründet, hat sich die amerikanische Gruppe Low einem Stil verschrieben, der
als Anachronismus in einer Welt des Überschalls erscheinen muß. Low machen Pop in Zeitlupe, Songs im
Schneckentempo. „Slow-Core“ sagen sie dazu, was als Kontrapunkt zu
“Speed-Metal” zu verstehen ist. “Früher traten wir
häufig bei „Band-Nights“ zwischen einer Punk- oder Grungeband auf. Es fühlte
sich an, als ob wir gegen die Stimmung der Leute anspielten,“ erzählt Mimi
Parker, Schlagzeugerin und Sängerin von Low. „Wir bekamen Panik-Attacken, weil
wir leise und minimalistisch musizierten. Am liebsten wäre ich manchmal davongelaufen.
Doch gelegentlich gab es eine magische Verwandlung. Die Zuhörer ließen sich auf
unsere Musik ein.“
Low nimmt sich bewußt zurück. Die Beschränkung auf das Allernotwendigste
verwandelt ihre Songs in Miniaturen von fragiler Einfachheit. Ein anderes
Zeitmaß wird etabliert. Durch die Verlangsamung nimmt der Hörer die Musik
anders wahr, einzelne Worte und Töne bekommen mehr Gewicht. „Langsame Musik klingt
leise am besten,“ weiß Mimi Parker. Und leise Musik bewirkt, daß das Publikum
aufmerksamer zuhört. Die Stille funktioniert paradoxerweise wie eine
Verstärkeranlage: Wenn man die Lautstärke zurückdreht, werden die Ohren der
Zuhörer größer. “Als wir anfingen, spielten wir
Nummern, die bordunartig, monolitisch und meditativ waren,“ erinnert sich
Low-Gitarrist Alan Sparhawk. „Solche Stücke ziehen die Zuhörer hinein, was
komplexere Kompositionen oft nicht schaffen. Der Minimalismus macht die
kleinste Bewegung sehr groß.“
Der Avantgarde-Komponist Morton Feldman (1926-1987) war eine
Inspirationsquelle für Low. Vor allem Feldmans frühe Piano-Stücke haben es der
Gruppe angetan. Sie dehnen die Zeit. Zwischen den Tönen und Akkorden entfaltet
sich eine wundersame Spannung. Feldmann war ein Meister der kleinen Form. Seine
Miniaturen für Piano sind unscheinbare Stücke, die ganz auf die große Geste
verzichten. Sparsame Töne von eine träumerischen Sinnlichkeit prägen die Kompositionen
- manche kaum zwei Minuten lang. Die Pianistin Sabine Liebner trifft auf ihrer
aktuellen Einspielung den richtigen Ton.
Morton Feldman und John Cage
Morton Feldman war eng mit John Cage befreundet. Mit
seiner Komposition “4’33” entwarf Cage 1952 das ultimative Stück des
Reduktionismus. Es besteht aus nichts anderem als vier Minuten und 33 Sekunden
Stille. Cage ging es darum, das Nichts sinnlich erfahrbar zu machen, das für
ihn eine Imagination von Ewigkeit war. Der Interpret ist gehalten, ganz ruhig
an seinem Instrument zu sitzen und keinen Ton hervorzubringen. Durch die Stille
nimmt das Publikum plötzlich die Geräusche der Umgebung wahr, deren Poesie Cage
herausheben wollte. “Musik der Realität” war seine Bezeichnung dafür. "Was
mir wirklich an dem stillen Stück gefällt, ist, dass es jederzeit gespielt
werden kann," meinte er schelmisch.
Christian Wolfarth
Cages „4’33“ wurde in
den 90er Jahren zum Fluchtpunkt einer internationalen Bewegung von
Avantgarde-Musikern, die sich einem radikalen Reduktionismus verschrieben und
in Wien, Berlin und London ihre Hauptquartiere hatten. Ihre asketische Musik
neigte zur Ereignislosigkeit und war manchmal noch leiser als leise. In letzter
Konsequenz verschwand sie vollkommen in der Stille. Der Schweizer Schlagwerker Christian Wolfarth ist mit dieser Szene lose
verbunden. Er hat sein Schlagzeug mehr und mehr ausgedünnt und verkleinert und
spielt heute oft nur noch auf ein paar ausgesuchten Metallbecken, die er mit Geigenbögen
streicht, um sie leise summen und brummen zu lassen. Monochromen Klänge, die oft wie elektronische
Sounds klingen, ebben auf und ab und schimmern in vielen Farben.
To Rococo Rot (Foto: Adi Wolotzky)
Nur wenige Elemente prägen die elektronische Loopmusik der Formation To
Rococo Rot, deren Mitglieder aus Düsseldorf und Berlin kommen. Meistens steht
der Rhythmus im Vordergrund, getragen von einem wuchtigen Baßriff. Melodie und
Harmonik sorgen als dezente Klangfarben für Koloratur. Mit den Loops und der
stetigen Wiederholung kommt ein trancehaftes Moment ins Spiel. Die Mitglieder
des Trios sind Meister im Weglassen. “Wenn man in kompletter Dunkelheit sitzt,
entwickelt das Gehirn von selbst Bilder, weil es keine Sinneswahrnehmung mehr
gibt,“ erläutert Elektroniker Robert Lippok die Idee. „Unsere Musik
funktioniert so ähnlich. Oft haben uns Konzertbesucher erzählt, dass sie
Melodien hören, die gar nicht in den Stücken sind. Dadurch wird der Hörer zum
Mitmusikanten und zum Teil der Band.”
Jazzmusiker gehen mit Tönen großzügiger um. Der ökonomische Umgang mit den
musikalischen Mitteln zählt nicht zu den Tugenden des Stils – im Gegenteil: die
Improvisationen laden die Solisten dazu ein, sich voll auszuspielen. Von diesem
Musizierideal weicht das Enemble Fifty-Fifty ab. Nur zwei Musiker bilden die Formation:
Drummer Manfred Kniel schlägt vielschichtige Pattern, die sich auf unterschiedlichen
Zeitebenen bewegen und sich Loop-artig wiederholen. Saxofonist Ekkehard Rössle
gibt sparsame Töne dazu, die vom kühlen Spiel des Cooljazz beeinflusst sind.
Die beiden führen die Musik auf ihre Ur-Elemente zurück: Melodie und Rhythmus. Tranzparenz und Räumlichkeit
gehen daraus hervor. “Die psychologische Herausforderung besteht darin, dem
Erwartungsdruck der Zuhörer nicht nachzugeben und seine Virtuosität und
Spieltechnik in Zaum zu halten,” stellt Kniel fest. “Es ist schwierig, Zurückhaltung
zu üben und sein Ego zurückzustellen. Musiker haben Angst vor der Stille und
neigen dazu, sie mit Tönen und Klängen zuzukleistern.”
Mit “Zen-Funk” versucht der Zürcher
Nik Bärtsch mit seinem Ensemble Ronin diese Falle zu umgehen. Kleinste
melodische Partikel werden stetig wiederholt, leicht variiert und verzahnt. Pausen
sind so wichtig wie Töne und Klänge. “Ich habe von Morton Feldman gelernt: Wenn
man eine musikalische Idee klar vermitteln will, sollte man es so einfach wie
möglich tun!“ erläutert Bärtsch seinen Ansatz. „Dazu muß man seine Ästhetik
total klären und zuspitzen. Wenn die Mikrophrasierung, die kleinen
Verschiebungen, das Timing, das Timbre und die Ghost Notes eine Rolle spielen
sollen, muss auch Platz in der Musik sein, das überhaupt wahrnehmen zu können.
Das Narrative einer Melodie kann sehr spannend sein, zieht aber Aufmerksamkeit
vom rhythmischen Geschehen ab.“ Bärtschs Musik nimmt sich Zeit, baut sich nur
langsam auf: kurze rhythmische Formeln, Melodien und Riffs laufen in
immergleicher Manier im Kreise und greifen mit der Präzision eines Uhrwerks
ineinander. In diesen Labyrinthen kann man sich verlieren.
Low: The Invisible Way (Sub Pop)
Sabine Liebner: Morton Feldman / Early Piano Pieces (Do-CD / Wergo)
Christian Wolfarth: Acoustic
Solo Percussion Vol. 1-4 & Remixes
(Hiddenbell
Records)
To Rococo Rot: Rocket Road (3er CD Box / City
Slang)
Fifty-Fifty: Let’s Count (Klangbad)
Nik Bärtsch’s Ronin: Live (ECM)
Der Artikel erschien zuerst in der WoZ (Die Wochenzeitung / Zürich)
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