Neue
Musikzeitung (nmz)
Die wichtigsten Fragen aus dem Untergrund
Christoph
Wagners große reflektierende Erzählung vom Klang der Revolte
nmz. Wie konnte
es passieren, dass Musik so wichtig wurde? Wenn man Christoph Wagners Buch
über die Achtundsechziger-Revolte liest, liegt plötzlich der Gedanke nahe, dass
es nicht der politische Diskurs der Zeit war, sondern die vielstimmige,
multiidiomatische Musik, die den Geist der Revolte ab Mitte der Sechzigerjahre
am genauesten und radikalsten auszudrücken vermochte. Das kann damit
zusammenhängen, dass Wagner die so genannte Studentenbewegungszeit aus der
Perspektive eines Menschen sieht, der in den Siebzigern tief verstrickt
war in die aufregenden musikalisch geprägten Subkulturen jener Zeit. Es kann
aber auch damit zusammenhängen, dass die innere Debatten-, Streit- und
Abgrenzungskultur der Bewegung im Laufe weniger Jahre ein
enorm zersetzendes,
blockierendes Potenzial entfaltet hat, während der kulturelle Dissenz mit der
älteren Generation, das Neue und der Aufbruch in der Musik und ihren sozialen
Rahmenbedingungen am kompromisslosesten abgebildet waren.
Popfestival, 1972
Christoph Wagners Buch ist in einem überaus angenehmen Sinn ein Geschichtsbuch. Es hat starke erzählerische Anteile und ist durchzogen von einer intensiven und kenntnisreichen Anteilnahme sowie einer empathischen Wärme, aus der das Anliegen des Buches heraus scheint. Es besteht nicht allein in Quellenstudium und Chronisten-Selbstverpflichtung. Wagner will alles noch einmal rückblickend durchlebbar machen, verknüpft mit der nach all den Jahren umso erstaunter gestellten Frage, was da eigentlich alles passiert ist und wie das passieren konnte.
Seine Berichte
aus der Zeit des großen Urknalls der Rock-und-Pop-Revolte in der westlichen
Hemisphäre und ganz besonders in Deutschland nehmen stets ihren Ausgang von
musikalischen Phänomenen und behandeln nebenbei deren subkulturelle
Verlaufsformen, ihre politischen Beimengungen und Auswirkungen. Er macht das so
geschickt, dass man nach einiger Lesezeit nicht mehr weiß, was die Beimengung
oder Auswirkung wovon war. Ursachen und Wirkungen, Politik und Musik, Ökonomie
und Verblendung finden von Kapitel zu Kapitel näher zueinander. Das lässt dem
Gegenstand seine Fülle und seine nach wie vor schwer
entwirrbare Komplexität.
Ton Steine Scherben
Es ist also im
engeren Sinne keine Chronik und auch keine soziologische Bestandsaufnahme, was
Wagner leistet, es ist eine Art gewissenhafter Nacherzählung, eine postume
Behandlung von Fragen, die damals mitten im Raum standen – in jenem Raum, in
dem Rockmusik oder freier Jazz oder psychedelische Klanggebilde oder endlos
minimalistisches Getrommele zu hören war und Haschischwolken dufteten. Fragen
wie die: warum das Englische zwangsläufig die Sprache der Revolte war und über
welche Umwege deutsche Sprache schließlich doch hier und da relevant wurde. Wie
es zur Entwicklung des zeitgenössischen Popfestivals kam und wie schwierig
diese Entwicklung in Deutschland verlief. Warum und für wen plötzlich das
Tonstudio ein mythischer Ort der populären Musik wurde. Wie die Verhältnisse
von Deutschrockern, Freejazzern, Straßenmusikern sich gestalteten. Ob Drogen wirklich
so enorm wichtig waren. Worin die unverwechselbaren Eigenständigkeiten der
bundesdeutschen Szene bestanden, warum die Revolte also merkwürdigerweise
durchaus eine nationale Angelegenheit war, obwohl Internationalismus eine
geradezu unverzichtbare Forderung in all den parallel verlaufenden nationalen
Revolten war. Es sind nach wie vor die eigentlich spannenden Fragen, die aus
dieser Zeit übrig geblieben sind.
Spannend ist
auch die verdichtete Zusammenstellung des Materials. Wagner schreibt in
porträthaft abgeschlossenen und darüber hinaus eng miteinander
zusammenhängenden Kapiteln die Geschichte der Essener Songtage, des
Waldeck-Festivals sowie der deutschen Popfestivals, auf denen es Anfang der
siebziger Jahre Mode wurde, dass ein Teil des Publikums sich im Sturm gratis
den Eintritt verschaffte. Er zeichnet die Entwicklung alternativer Lebens- und
Musikkonzepte anhand so divergierender Gruppen wie Ton Steine Scherben,
Embryo, Kraan, Can oder Paul und Limpe Fuchs nach. Er vergisst nie die
tiefgreifenden sozialen Ablösungsprozesse, die in Deutschland am Ende der
sechziger Jahre die jüngere Generation miteinander verbanden, und er richtet
reflektierende Seitenblicke auf die politischen Spaltungsprozesse der Szene
nach Minimaldifferenzen und ideologischen Bornierungsmerkmalen.
Christoph
Wagners Buch über die Revolte der sechziger und siebziger Jahre und ihre
Klangwelten lässt ahnen und nachvollziehen, wie das alles
passieren konnte.
Christoph
Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen
Musik-Underground (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz 2013, Hg: Haus der Geschichte Baden-Württemberg; 388 S., Abb., € 24,95, ISBN 978-3-7957-0842-9
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