Ich folge nur den Spuren
Der New Yorker Gitarrist Lee
Ranaldo (Sonic Youth) über experimentelle Musik, die Kunst des Songwriting, die
Faszination von Poesie und Malerei und seinen Auftritt beim 30.
Taktlos-Festival am 16. Juni in der Roten Fabrik in Zürich
Ein Interview von Christoph
Wagner
Sie
sind als Mitglied der Indie-Rockgruppe Sonic Youth bekannt. Jetzt treten sie
beim Taktlos-Festival in Zürich auf - einem Festival für experimentelle Klänge.
Welche Beziehungen haben sie zu dieser Szene?
Lee Ranaldo: Die meisten Leute
kennen mich als Gitarristen von Sonic Youth, obwohl ich auch immer schon
experimentelle Musik gemacht habe. Ich spiele kontinuierlich freie
Improvisationen mit den verschiedensten Leuten, ob mit dem Schlagzeuger William
Hooker oder dem Saxofonisten Mats Gustafsson. Im Jahr 2000 war ich bereits
einmal beim Taktlos-Festival zu Gast, damals mit dem Dudelsackspieler David
Watson und dem Schweizer Schlagzeuger und Elektroniker Günter Müller - ein
hochexperimentelles Konzert! Dieser Stil ist mir also alles andere als fremd.
David Watson ist ein Dudelsackspieler aus Neuseeland, der ebenfalls in New York
lebt. Wir spielen bis heute zusammen. Letztes Jahr haben wir ein Album mit dem
Titel “Glacial” veröffentlicht, bei dem noch der australische Drummer Tony Buck
mitwirkte. Zum “Taktlos” werde ich aber dieses Mal mit meiner Rockgruppe anreisen.
Wie
verlief ihre musikalische Entwicklung? Sind sie von der experimentellen Musik
zum Rock gekommen?
Lee Ranaldo: Nein, es war genau umgekehrt.
Ich fing in meiner Jugend mit Rock ‘n’ Roll an, spielte in unzähligen Pop- und
Rockbands. Erst später entdeckte ich die experimentelle Musik., was ganz
organisch verlief. Ich tauchte dann tiefer und tiefer in dieses Genre ein. Ich
folgte zuerst nur den Spuren, die Rockmusiker hinterließen. Auf dem Cover von
Sgt. Pepper, dem bahnbrechenden Album der Beatles, war Karlheinz Stockhausen zu
sehen. “Wer ist dieser Typ?” dachte ich und folgte der Fährte. So entdeckte ich
die avantgardistische Konzertmusik.
Als ich dann 1979 nach New York
kam, war das wie eine Explosion. Überall wurde an Neuem gebastelt. John Cage
war aktiv, ebenso die Minimalisten Philip Glass und Steve Reich. Es gab die
Gitarrenorchester von Glenn Branca und Rhys Chatham und die “Drones” von
LaMonte Young. Die Clique um John Zorn bastelte an neuen Konzepten. Selbst die
Rockszene war damals in New York äußerst experimentell. Die No-Wave-Gruppen
dekonstruierten den Rock ‘n’ Roll. Ich kam von der Kunsthochschule und hatte
dort Kunstbewegungen wie Fluxus, Dada oder Surrealismus studiert, die sich die
Dekonstruktion der Kunst zur Aufgabe gemacht hatten. Das passte mit diesen
neuen Tendenzen wunderbar zusammen. Ich spielte in Glenn Brancas frühem Gitarrenorchester
– aufregende Jahre!
Die
Musikszene von Downtown Manhattan schien Ende der 70er Jahre ein einziges
riesiges Experimentierlabor gewesen zu sein. Haben sie das so erlebt?
Lee Ranaldo: Sicherlich! New York
war immer schon ein Zentrum kreativer Energie, und die Downtown-Szene von
Manhattan befand sich damals in einer äußerst fruchtbaren Phase. Überall
passierten die fantastischsten und verrücktesten Dinge. Musiker kombinierten
die unterschiedlichsten Stile auf völlig neue Weise. Die Energie der Punk-Revolution
war eine entscheidende Kraft. Es gab Clubs wie das CBGB und Max’s, auch
kleinere Auftrittsorte und Lofts. Dort ging die Post ab.Man konnte Teenage
Jesus & The Jerks hören, oder Suicide oder die Contortions. Lydia Lunch spielte bei Teenage Jesus die E-Gitarre
mit Messern und James Chance blies auf dem Saxofon wie Albert Ayler. Die Band
brachte Punk und Freejazz zusammen. Eine andere interessante Gruppe war
Suicide, die die Elektronik auf revolutionäre Weise nutzte. Es war eine hochinteressante
Zeit – inspirierend!
Sie
haben letztes Jahr das Soloalbum “Between the Times and the Tides”
veröffentlicht, das mit einem Aufkleber versehen ist: “The first rock album from Lee Ranaldo’s Sonic Youth»…
Lee Ranaldo: Ich weiß, das ist
lustig. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz falsch, weil ich bis dahin kein
volles Soloalbum mit Rocksongs veröffentlicht hatte. Als vor ein paar Jahren
Sonic Youth eine Pause einlegte, fing ich an, diese Lieder zu schreiben. Das
Label brachte den Aufkleber an, damit die Leute nicht meinen sollten, es wäre
eine weitere meiner experimentellen Veröffentlichungen. Es sollte klar sein:
Hier handelt es sich um Songs und Rockmusik! Ich arbeite bereits an der
nächsten Veröffentlichung, die diese Entwicklung fortführt. Sie wird neue Songs
enthalten. Darum dreht sich momentan mein Interesse: Ich arbeite intensiv an
neuen Lieder, singe viel und beschäftige mich generell mit dem Songformat. Das
Album wurde im Kern von der gleichen Band eingespielt, die nach Zürich kommen
wird. Alan Licht spielt Gitarre, Steve Shelley von Sonic Youth sitzt am
Schlagzeug. Ich wollte für mich und meine Songs eine feste Band haben, nicht
nur ein loser Verbund von Musikern.
Sie
waren nie nur Rockmusiker, sondern haben u.a. auch Gedichte geschrieben. Hat
das neue Interesse am Songwriting damit zu tun?
Lee Ranaldo: Vielleicht. Ich schreibe
weiterhin Gedichte. Ende des Jahres wird ein Buch mit Poesie und Texten von mir
erscheinen. Ein Interesse an Wörtern kann nicht schaden, wenn man Songtexte
schreibt. Ich bin mir aber bewußt, dass Songtexte und Lyrik zwei
unterschiedliche Disziplinen sind. Liedtexte funktionieren anders als Poesie.
Gedichte werden für die Buchseite geschrieben, können still gelesen werden oder
laut rezitiert, sind also vom Wesen her etwas anderes als Songs.
Ursprünglich
kommen sie von der bildenden Kunst…
Lee Ranaldo: Das ist richtig!
Musik und Poesie sind nur ein Teil meines kreativen Schaffens. Ich habe
ursprünglich Malerei und Kunstdruck studiert. Im Moment findet gerade eine
Ausstellung meiner Gemälde in Portugal statt. Die Bilderserie heißt “Highway
Drawing” und ist auf dem Beifahrersitz unseres Tourbuses entstanden. Ich habe
in der Vergangenheit auch viel mit Film gearbeitet. Mit meiner Frau Leah Singer
absolviere ich Auftritte, die Musik, Film und Elemente von Performance Art
verbinden. Filme und Zeichnungen mache ich beinahe schon länger als Musik. Ich
begreife mich als Künstler, der mit verschiedenen Medien arbeitet. Im Bereich
der Musik bin ich nur am bekanntesten, obwohl ich immer schon in mehreren
Kunstsparten tätig war.
Das
Taktlos-Festival findet in der Roten Fabrik in Zürich statt? Verbinden sie mit
dem Ort bestimmte Erinnerungen?
Lee Ranaldo: Zur Roten Fabrik
habe ich eine ganz spezielle Beziehung, die weit zurückreicht. Als wir Anfang
der 80er Jahre mit Sonic Youth die ersten paar Male nach Europa kamen, hatten
wir einen Touragenten aus Zürich. Deshalb nahmen unsere Tournee oft von hier
ihren Ausgang. Die Rote Fabrik war einer der ersten Orte in Europa, wo Sonic
Youth auftrat und mit dem wir mit der Zeit vertraut wurden. Heute ist es einer
der wenigen Auftrittsorte aus dieser Zeit, die noch bestehen. Wir haben dort
über die Jahre einige sehr coole Gigs gespielt und eine gewisse emotionale Beziehung
zu dem Ort entwickelt. Er ist Teil unserer Geschichte.
Haben
sie besondere Erwartungen an ihrem Auftritt beim “Taktlos”?
Lee Ranaldo: Wir sind gerade
dabei ein neues Album fertig zu stellen und werden deshalb einige Songs der
vorigen Platte und einige neue Songs präsentieren. Ich bin gerne in Zürich.
Wenn ich Zeit habe, gehe ich ins Kunsthaus, wo ich schon öfters war. Wann immer
ich kann, besuche ich Museen und Kunstgalerien, wenn ich auf Tour bin. Ich habe
einen lange Liste von interessanten Orten, wo Kunst zu sehen ist, die ständig
wächst. Die arbeite ich ab!
Lee Ranaldo: Between the Times
and the Tides (Matador Records)
Lee Ranaldo & The Dust treten am Wochenende beim Taktlos-Festival in Zürich auf: 14. - 16. Juni / Infos: http://www.taktlos.com
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