Polyglotte Vielstimmigkeit
Die griechische Vokalistin Savina Yannatou verbindet Folklore, Jazz und gewagte Improvisationen auf vielfältige Weise
cw. “Die Lieder sind eine melancholische Erinnerung, die als Utopie in die Zukunft scheint”, sagt Savina Yannatou über ihr “Thessaloniki”-Programm. Mit der Gruppe Primavera en Salonico hat die Sängerin aus Athen seit Jahren Lieder des Mittelmeerraums und des Balkans gesammelt, erforscht und aufgeführt. Die Songs, die von Thessaloniki handeln, haben sie nun zu einem Programm zusammengestellt, das als eine Hommage an das multikulturelle Erbe der nordgriechischen Hafenstadt zu verstehen ist und ungeheuer bunt und vielfältig klingt.
Die Songs stammen aus der Epoche vor dem 1. Weltkrieg, als Thessaloniki noch zum osmanischen Reich gehörte und Selanik hieß. Damals lebten Griechen, Türken, Roma, Bulgaren, Serben, Mazdeonier, pontische Griechen, Sephardim und Armenier einigermaßen friedlich in der Stadt, wobei jede Volksgruppe ihre eigenen Bräuche, Dialekte und Sprachen sowie ihre eigene Musik und Lieder pflegte. Laut Zensus aus dem Jahr 1913 waren die Juden mit knapp 40 % die größte religiöse Gruppe, gefolgt von Muslimen (ca. 30%) und christlich-orthodoxen Griechen (ca. 25%). Das machte Thessaloniki zu einem kosmopolitschen Schmelztiegel, einem polyglotten Laboratorium kultureller Diversität. Manche betrachteten “Salonicco” als eine jüdische Stadt mit orientalischer Flair und kosmopolitischer Amosphäre, als “kleines Jerusalem an der Ägäis.” Damals sprühte das städtische Leben vor Aktivitäten und Geschäftigkeit, neue Ideen zirkulierten, die sich an westlichen Werten orientierten.
So reichhaltig das Gewirr der Stimmen, Sprachen und Dialekte, so vielfältig waren die musikalischen Stile, die sich an dieser Schnittstelle zwischen Orient und Okzident begegneten und vermischten: Sephardische Lieder, orientalische Melodien, die Gesänge der Kantoren, sowie Tanzweisen vom Balkan waren zu vernehmen. Auch erste Rembetiko-Nummern schallten durch die hügelige Altstadt oder wurden in den Café-Amans und Tavernen der Unterstadt am Hafen angestimmt. Als Ursprungsort des Rembetiko gilt die Festung Eptapyrgio auf der Akropolis Thessalonikis, einst als Gefängnis genutzt, wo dieser Stil der zwielichten Halbwelt von inhaftierten Ganoven, Haschischrauchern, Streunern und Taschendieben Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sein soll. Aus diesem “Melting Pot” an Liedern und Melodien schöpfen Savina Yannatou und Primavera en Salonico ihr Programm.
Neue Instrumente und Klänge, wie das Akkordeon, die Klarinette und die Geige, fanden ihren Weg ins traditionelle Repertoire, auch orientalische Klangerzeuger wie die Ney-Flöte, die Laute Oud sowie die Qanun-Zither wurden benutzt. Das alles verschmolz zu einem großen musikalischen Esperanto. Savina Yannatou setzt mit dem Primavera en Salonico-Ensemble die Klänge auf überzeugende Weise ins Szene, reichern sie mit eigenen Ideen und Improvisationen an. “Es ist der Blick auf das historische Thessaloniki durch die Augen der verschiedenen Volksgruppen und beinhaltet Klagelieder, Liebeslieder und Heimweh-Lieder, die oft eine metaphorische Bedeutung besitzen. In ihnen kreuzt sich das Schicksal der Menschen mit dem Schicksal der Stadt,” erklärt die Sängerin.
Eine Serie von “Katastrophen” mit Kriegen, Zwangsumsiedlungen, Deportationen, Genoziden und schließlich dem Holocaust, dem die meisten der über 60000 jüdischen Einwohner von Thessaloniki zum Opfer fielen, zerstörte das multikulturelle Gewebe der Stadt. “Es geht darum: Nicht zu vergessen!”, sagt Savina Yannatou, “nicht das kosmopolitische Erbe, nicht die polyglotte Vielfalt, nicht die Opfer von Krieg, Gewalt und Rassenwahn.”
Savina Yannatou & Primavera en Salonico: Songs of Thessaloniki (ECM)
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