Trommelschläge und wilde Schreie
Vor hundert Jahren kam der Jazz nach Südwestdeutschland und löste Begeisterungsstürme, aber auch Untergangsgeheul
Foto: Sammlung C. Wagner
cw. Den Zeitgenossen kam es wie ein Orkan vor, der unangekündigt über sie hereinbrach, so wild und ungestüm klangen die neuen Töne. „Jazz! Ganze Völker tanzen darauf. Der Rhythmus der Maschine ist im Jazz Trumpf. Seine Energie wird durch motorische Kraft getrieben,“ schrieb 1925 die Zeitung Der Volksfreund aus Karlsruhe. „Daraus entsteht der neue Tanz.“
Nach dem 1. Weltkrieg kam die amerikanische Tanzmusik nach Südwestdeutschland und verbreitete sich in Windeseile. Doch nicht jedermann war hingerissen. Die Bevölkerung spaltete sich in zwei Lager: Jazz war – wie eine Tageszeitung feststellte – „das Entzücken und der Schrecken des ersten Nachkriegseuropas.“
Von jungen Leute begeistert aufgenommen, verdammten ältere den „Jazzlärm“. „Die Orchesterbegleitung besteht aus wilden Schreien, Trommelschlägen und Saitengezupf“, klagte eine Zeitung 1919. Für das konservative Bürgertum war Jazz „ein unzüchtiger amerikanischer Tanz“ und Sinnbild des Niedergangs und allgemeinen Sittenverfalls, während Nationalisten ihn als „undeutsch“ schmähten. „Es ist im Grunde eine Schmach, dass ein Volk, das Beethoven, Bach, Schumann und Händel sein eigen nennt, so hemmungslos dem Jazz huldigt,“ wetterte das Durlacher Wochenblatt 1932. „Das ist nicht bloß eine Entartung der Mode, sondern das Zeichen einer tiefgehenden Erkrankung.“ War Jazz der Untergang des Abendlands? War das überhaupt noch Musik?
Jazz bei der Fastnacht – Zeitung: D'r Alt Offeburger 11.2.1928
Jazz strahlte von den Metropolen aus. In den europäischen Hauptstädten, ob London, Paris oder Berlin, war schon länger nach den neuen Klängen getanzt worden, wobei es ein paar Jahre dauerte, bis die „Tanzwut“ ins Hinterland kam. Doch bald schon hatte die „Jazz-Epidemie“ auch die Provinz erreicht. Die „Narkotisierten“ schienen vom „Jazz-Teufel“ geradezu besessen. An jedem Tanzboden, bei jedem Vereinsfest und in jedem Kaffeehaus wurde jetzt nach den heißen Rhythmen aus Amerika getanzt, gespielt von Musikkapellen aus Stuttgart, Karlsruhe, Pforzheim, Lahr oder Baden-Baden, die sich „Fidelia“, „Lyra“ „The Teutonia“, „Apollo“ oder „Lorelei“ nannten. Aus Hirsau kam die „Havanna-Jazzband“. Im Umland von Stuttgart spielte die "Jazzband-Kapelle Obertürkheim-Rohracker. (siehe Bild oben)
„Der Jazz konnte einen ungehemmten Siegeslauf um die Welt antreten, verstand er es doch von Anfang an, die Massen durch seinen Rhythmus zu faszinieren,“ befand ein Kritiker. Da der Swing ein Hauptmerkmal des Stils war, hing alles vom Drummer ab: Ihm kam die knifflige Aufgabe zu, den synkopischen Swing-Rhythmus akurat zu trommeln, weshalb der Schlagzeuger allgemein als „der Jatzer“ bezeichnet wurden. Weitere Besonderheiten einer Jazzband waren die Saxophone, die die Streichinstrumente der Salonorchester wie Geige und Cello ablösten. Dazu kam meistens noch ein Banjo- oder Ukulele-Spieler, der den Rhythmus akzentuierte.
„Kennzeichen der Qualität einer Jazzkapelle ist das harmonische und rhythmische Zusammenspiel, dazu größte Disziplin, die auch in fortgeschrittener Stunde nicht die kleinste Spielvorschrift vernachlässigt,“ hängte die Badische Presse 1927 die Latte ziemlich hoch, um gleich einzuräumen, dass im damaligen Europa nur eine von hundert Jazzbands diesen Qualitätsansprüchen entsprach. Denn mittlerweile bezeichnete sich jede durchschnittliche Tanzkapelle, die sich einen modernen Anstrich geben wollte, als Jazzband.
Wildes Treiben – Jazz als Punk der 1920er Jahre (Sammlung C. Wagner)
Vielleicht war die „Jazzbandkapelle Henry Schäfer“ ein solches Ausnahme-Ensemble, das sich auf Grund seiner „erstklassigen Leistungen“ – selbst über Karlsruhe hinaus – großer Beliebtheit erfreute. „Da war Schmiß und Schwung und vor allem Rhythmus in den Tanzweisen der Kapelle Schäfer, die unermüdlich zum Tanz aufspielte und bei allen Tanzsachverständigen begeisterten Beifall fand,“ berichtete die Badische Presse 1930.
Jedes Jahr zur Kirchweih im Herbst oder zur Fastnacht im Frühjahr schlug die Stunde des Jazz. In den wilden Tagen vor Aschermittwoch drehten die Kapellen mächtig auf und stürzten sich und das tanzwütige Publikum ins „Karneval-Jazzgetümmel“.
Und dann kamen sie doch auch endlich in den Südwesten: die Stars des Genres, wenn auch nicht aus Amerika, wo Paul Whiteman als „King of Jazz“ galt, so doch aus der Reichshauptstadt Berlin. Im Mai 1931 hatten die Weintraub-Syncopaters in Karlsruhe einen Auftritt und wurden als „originellste und ideenreichste deutsche Kapelle“ gefeiert: „zweifellos eine Sensation auf ihrem Gebiet.“ „Wie die Burschen ihre Instrumente behandeln, wie sie mit Melodien jonglieren, das ist einfach fabelhaft,“ begeisterte sich ein Berichterstatter. „Das ist ein Musizieren, das einem einfach ins Blut geht, das mitreißt und restlos begeistert.“
Jazz hatte auf der Fastnacht Hochkonjunktur (Quelle: D' r Alt Offeburger 12.2.1927)
Als eine weitere „Jazzkapelle von Weltruf“ ein Gastspiel in der badischen Landeshauptstadt ankündigte, wurde betont, dass die Gruppe ausschließlich aus Weißen bestehe, was verkannte, dass der Jazz eigentlich die ureigenste Musik der Afroamerikaner war. „Sicher werden auch die Kreise, die bisher die Jazzmusik ablehnten, nach Anhören dieser Kapelle zu einer anderen Auffassung gelangen,“ hoffte ein begeisterter Kritiker.
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