Radikale Protestmusik
Mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester versuchten in der 2. Hälfte der 1970er Jahre die Komponisten Heiner Goebbels und Rolf Riehm sowie der Jazzmusiker Alfred Harth dem Elfenbeinturm elitärer Kunstmusik zu entkommen
Das Sogenannte Linksradikale Blasorchester beim Pfingstkongreß 1976 in Frankfurt a. M. (Foto: Norbert Saßmannshausen)
cw. „Es ging darum, das Ernste und Strenge, oft auch Verbohrte, der linken Politszene aufzubrechen und etwas Farbe, Schwung und Spaß in die Demos zu bringen,“ so beschreibt Saxofonist Alfred Harth die Zielsetzung des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters (SLBO), einer 14 bis 19 Mitglieder starken Gruppe aus der undogmatischen Linken, die Mitte der 1970er Jahre entstanden war. „Das Blasorchester“, wie es von seinen Mitgliedern schlicht genannt wurde, war der musikalische Arm der Frankfurter Sponti-Szene in fiebriger Zeit, aufgewühlt von Anti-Atomkraftprotesten, dem Widerstand gegen die Startbahn-West des Frankfurter Flughafens, von Wohnraumspekulation und der Besetzung leerstehender Häuser, Demonstrationen gegen Nazis sowie dem „Deutschen Herbst“ als Reaktion auf die Terroranschläge der RAF. Warum aber tauchte das Wort „sogenannt“ im Bandnamen auf? Antwort: Weil nicht die Beteiligten selber, sondern Außenstehende die Gruppe als „linksradikal“ tituliert hatten.
Die politischen Ereignisse überschlugen sich und schufen den Drang, den Elfenbeinturm elitärer Kunstmusik zu verlassen, um mit Musik ganz konkret in die politischen Kämpfe der Zeit einzugreifen. Wie das geschehen konnte, darüber hatten sich die beiden Initiatoren, Heiner Goebbels und Alfred Harth, schon seit längerem den Kopf zerbrochen, wobei ihre Überlegungen um die Frage kreisten, wie Musik politisch überhaupt wirksam werden könnte? Als Saxofon-Piano-Duo Goebbels & Harth hatten sich die beiden mit den Liedern des Komponisten Hanns Eisler (1898-1962) auseinandergesetzt, dem in den 1920er Jahren eine Musik für die Massen vorschwebte, die aber keine Massenmusik sein sollte. Dagegen sollte sie Niveau haben und trotzdem eingängig sein, was sie für den politischen Kampf erst tauglich machte. Als „unkommerzialisierte Unterhaltung“, hatte der Komponist Rolf Riehm als Mitglied im SLBO die Intention umrissen.
Für Straßenprotest erwies sich konzertante Kunstmusik als unbrauchbar, weshalb das Repertoire in zwei Kategorien unterteilt wurde: „Straßenstücke und straßenungeeignete“. Trat die Gruppe bei Konzerten in autonomen Jugendzentren, im Frankfurter Alternativclub „Batschkapp“, im Programmkino „Harmonie“ oder beim Festival „Rock gegen Rechts“ auf, kamen diffizilere Stücke zum Einsatz. Da wurde dann z. B. ein Gedicht von Friedrich Hölderlin bzw. Erich Fried oder ein Text des Schriftstellers Peter Paul Zahl vertont, der damals wegen einer fragwürdigen Gefängnisverurteilung zu einer Symbolgestalt im linken Milieu geworden war.
Für Demonstrationen, ob gegen das geplante Atomkraftwerk in Brokdorf, das Atommüll-Endlager in Gorleben oder die Startbahn-West, war dagegen eine simplere, handfeste Musik gefragt. Sie musste laut sein, um sich im Demolärm ohne Verstärkeranlage Gehör zu verschaffen, dazu eingängig, also einfach und nicht „abgehoben“ sein. Sie sollte darüber hinaus aufmunternd wirken, d.h. sowohl den Beteiligten als auch den Zuhörern Spaß machen, Überschwang und Ausgelassenheit vermitteln, ähnlich einer Blaskapelle beim Fastnachtsumzug.
Das sogenannte linksradikale Blasorchester (Foto: Trikont / Promo)
Der Soziologie- und Musikstudent Heiner Goebbels, der damals in einem besetzten Haus u.a. mit Joschka Fischer in der Bockenheimer Landstraße in Frankfurt wohnte, hatte zuvor bereits etwas Erfahrung als Straßenmusiker gesammelt. In München war er ein paar Mal mit seinem Akkordeon bei Streiks Teil des „Mobilen Einsatzorchesters“ um den Straßensänger Tommi gewesen. In Wyhl hatte er den Liedermacher Walter Mossmann begleitet, der im Kampf gegen das dort geplante Atomkraftwerk engagiert war. Zu einem Schlüsselerlebnis war allerdings zuvor schon ein Konzert bei den Donaueschinger Musiktagen 1971 geworden. „Der Jazzmusiker Don Cherry saß da im Yogasitz mit seiner kleinen Taschentrompete und spielte ganz einfache Melodien, wobei ihm eine größere Gruppe der besten europäischen Freejazzer folgte,“ erinnert sich Goebbels. „Die Energie, die von dieser von Cherry geführten Kollektivität ausging, deren Einfachheit sich unmittelbar mitteilte, hat mich schwer beeindruckt.“ Später war man auf das holländische Willem Breuker Kollektief aufmerksam geworden, das theatralische Musikaktionen, Jazz und Vaudeville-Traditionen miteinander verband. All diese Einflüsse, nebst den Jazz- und Improvisationserfahrungen von Alfred Harth, flossen in die Gründung des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters ein.
Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch aus Lust an der Provokation, die in der Sponti-Szene hoch im Kurs stand, wurde die wohl reaktionärste Form der musikalischen Praxis gewählt: das Blasorchester, dem man sonst nur bei Militärparaden, im Bierzelt oder bei Feuerwehrfesten begegnete. „Wir haben an diese Tradition angeknüpft, um sie gleich vollkommen anders zu interpretieren,“ so Goebbels.
Das sogenannte linksradikale Blasorchester (Foto: Trikont / Promo)
Das SLBO sollte allen offenstehen. Allerdings bestand es fast ausnahmslos aus Akademikern, darunter nur zwei Frauen, wobei die Zusammensetzung wechselte. Die Spanne reichte von Komponisten, Jazzern, Chorleitern und Schulmusikern bis zu Laien, von denen manche nach Jahren das Spiel eines Instruments wieder aufgenommen hatten, nur um bei der Gruppe mitmachen zu können. „Das Interessante war die Koexistenz von fantastischen Profis wie dem Free-Jazz-Saxofonisten Alfred Harth oder dem Komponisten Rolf Riehm, und Amateuren, die aus der politischen Szene kamen und die früher irgendwann einmal Flöte gespielt hatten“, resummierte Goebbels. Er hatte sich ebenfalls eigens aus diesem Anlaß das Saxofonspiel beigebracht, auf einem Tenorinstrument, das er vom Jazzsaxofonisten Heinz Sauer extra dafür erworben hatte. Anfangs ging es um nicht mehr als „einfache Melodien rotzig spielen zu können“, so Bandkollege Alfred Harth.
Ziel war, bei Demos für Radau, Ausgelassenheit, Zusammenhalt und gute Laune zu sorgen, was sich als hocheffektiv erwies. „Wir wollten eine bessere Gebrauchsmusik machen für politische Tageseinsätze,“ erklärte Heiner Goebbels. „Dafür war das Blasorchester die geeignetste Form. Instrumente, die man tragen kann und die doch eine gewisse Lautstärke besitzen.“ Oft führte das SLBO einen Demonstrationszug an, weil eine Musikkapelle an der Spitze sympathisch wirkte und Aufsehen erregte, und die Polizei etwas länger brauchte, bis sie bemerkte,, dass hinten in der Demo die Militanten von der „Putztruppe“ des Revolutionären Kampfs die Scheiben der Banken einwarfen.
Ganz der anti-autoritären Doktrin verpflichtet, war das SLBO eine Firma ohne Chef, heißt: es gab niemanden, der bestimmte was, wie, wann oder wo gespielt wurde. Alle Entscheidungen mussten kollektiv ausgehandelt werden, meist nach ausführlicher Erörterung. „Es gab zwar eine organisatorische Leitung von mir, aber keinen musikalischen Leiter,“ betont Goebbels. „Vielmehr wurden sehr spannende, exzessive Diskussionen über alles geführt: über die Aufführungsbedingungen, über die Aufführungsanlässe und auch über die Kompositionen, die oft auch verändert werden mussten aufgrund ästhetischer Debatten oder der spieltechnischen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung standen.“
Das sogenannte linksradikale Blasorchester beim Rock gegen Rechts-Festival, Frankfurt, 1979 (Foto: Trikont / Promo)
Was das Repertoire betraf, schälte sich bald ein Programm heraus, das vieles miteinander verband. „Nicht Lieder absingen, keine Ökofolklore, nichts Harmloses, nichts Dummes-Dumpfes, Perfektes, Glattes, nichts Wischiwaschimäßiges“ umriß Goebbels das Konzept, bei dem sozialistische Klassiker („Trotzalledem“, „Rote Sonne“), Zirkusnummern, Weihnachtslieder, Stücke von Hanns Eisler, Willem Breuker, Sun Ra, Frank Zappa und Johann Sebastian Bach sowie Kompositionen von Rolf Riehm, Heiner Goebbels und Alfred Harth wild durcheinander gingen.
Unter den Titeln „Hört, Hört“ (1977) und „Mit Gelben Birnen“ (1980) produzierte das SLBO während seines fünfjährigen Bestehens zwei Langspielplatten, die vom Münchner Anarcho-Label Trikont herausgebracht wurden, was neue Probleme aufwarf: „Die Live-Aufnahmen sind zwar meistenteils lebendig und spannungsvoll, musikalisch aber wirklich teilweise zu schlecht. Bei Studio-Aufnahmen kommt dagegen überhaupt keine Spannung auf, sie bleiben oft langweilig und trocken,“ erklärte die Altsaxofonistin Barbara Müller-Rendtdorff den Zwiespalt, eine von zwei Frauen im „Blasorchester“.
Sogenanntes Linksradikales Blasorchester: Trotz alledem (Youtube)
1980 wurde die Gruppe zu den Berliner Jazztagen in die Berliner Philharmonie eingeladen, was eine Diskussion über die weitere Zweckmäßigkeit auslöste. Etliche Mitglieder hatten das Gefühl, dass sich der ursprüngliche Impuls überlebt und sich die politische Großwetterlage so geändert hatte, dass diese „fröhliche und optimistische Form des Ausdrucks“ (Rolf Riehm) nicht mehr angebracht erschien. Die Gruppe stürzte in eine Krise, was ihr Selbstverständnis betraf. „Wir hatten den Eindruck, dass wir wohl ganz lustige Musik machen, aber die realen Kräfteverhältnisse doch ganz anders aussehen. Und wir konnten darauf nicht angemessen mit den uns zur Verfügung stehenden ästhetischen Mitteln antworten,“ so Goebbels. Nach fünf Jahren Musikaktivismus löste sich das Sogenannte Linksradikale Blasorchester 1981 auf.
Die beiden LPs auf einer Doppel-CD:
Sogenanntes Linksradikales Blasorchester: 1976–1981 (Trikont)
Zu beziehen über: www.trikont.de
Der Text erschien zuerst in der NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK, 1-2023 (https://musikderzeit.de)
No comments:
Post a Comment