Monday, 3 July 2023

SCHEIBENGERICHT 16: avantgardistisches Akkordeon

Neuerfunden: das Akkordeon als Avantgarde-Instrument


Teodoro Anzellotti

Origami – Werke für Akkordeon solo

(Georges Aperghis, Johannes Boris Borowski, Vykintas Baltakas, Anna Korsun, Miroslav Srnka)

Winter & Winter

 

4 von 5 Sterne 

 

cw.Teodoro Anzellotti gilt als der Musiker, der dem Akkordeon in der Neuen Musik zu Achtung und Beachtung verholfen hat – davor war das Instrument Tabu. Anzellotti hat Komponisten wie Heinz Holliger, Mauricio Kagel, Wolfgang Rihm, Salvatore Sciarrino und Jörg Widmann animiert, Stücke für sein Instrument zu schreiben und hat so dem schlecht beleumundeten Klangerzeuger mehr und mehr Akzeptanz verschafft. Nicht zuletzt wegen Anzellotti gilt das Akkordeon heute in der zeitgenössischen Musik als absolut vollwertiges Mitglied in der Familie der Orchesterinstrumente und hat nur noch selten mit seinem einst problematischen Image eines Volksinstruments („Schweineorgel“) zu kämpfen.  

 

Auf seiner aktuellen Einspielung erweist sich Anzellotti einmal mehr als Champion der zeitgenössischen Musik, indem er fünf neue Kompositionen präsentiert, die das Konzertakkordeon als Instrument ganz eigener Möglichkeiten und Klänge zeigen. Die Stücke – alle auf höchstem Niveau – können der Kategorie experimenteller Musik zugeordnet werden, da sie keiner genormten Form oder vorgegebener Struktur folgen, sondern eine Form aus sich selber heraus entwickeln, dabei in den buntesten Farben schillern.

 

Der prominenteste unter den fünf Komponisten ist Georges Aperghis (Jahrgang 1945), dessen Stück „Merry Go Round“ – wie der Titel nahelegt – Bezug auf ein Karusell nimmt. Mit rasch wechselnden Szenenfolgen versucht Aperghis, die Fahrbewegung dieser Jahrmarktvergnügung aus der Perspektive eines Insassen anzudeuten. Flirrend und flüchtig entfacht er einen Wirbel aus Bewegung und rasanten Tonfolgen, wobei die einzelnen Klangbilder in einem Rausch der Geschwindigkeit nur so an einem vorbeifliegen.  

 

Im Gegensatz dazu führt uns Anna Korsun mit ihrer Komposition „Hauchdünn“ in höhere Regionen, indem sie das Diskantregister des Akkordeons zum Ausgangspunkt ihrer Klangerkundung macht, dabei Balggeräusche, das mechanische Klappern der Knöpfe, enge Intervalle, aber vor allem hohe Töne erzeugt, die für das menschliche Ohr gerade noch hörbar sind, aber zu merkwürdigen Brechungen und Irritationen der Wahrnehmung führen, wobei man manchmal glaubt, elektronischen Sounds zu lauschen. Anfangs sieht man sich an den Morgengesang von Fantasievögeln in einem verwunschenen Märchenwald erinnert, wobei die ukrainische Komponistin, die seit längerem in Deutschland lebt, bald ins andere Extrem übergeht und Klänge aus dem Tiefbaßbereich aufklingen läßt, um danach die beiden Enden der Tonskala für einen Moment in einer Musik zusammenzubringen, die so fragil und transparent ist, dass man immer die Stille dahinter zu hören meint. Mit ungeheurer Präzision und überragender Virtuosität gelingt es Anzellotti, diese aufregenden neuen Werke so überzeugend in Szene zu setzen, dass man kaum glauben mag, dass das Akkordeon vor noch nicht allzu langer Zeit in der zeitgenössischen Musik geächtet war. 

 

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