Sunday, 10 December 2023

Jazz-Futurismus: Das DLW-Trio

The Music formerly known as Jazz

Das Trio Dell-Lillinger-Westergaard (DLW) greift weit über den Jazz hinaus

 

Dell-Lillinger-Westergaard (Foto: Nino Halm)


cw. Kann Musik ihrer Zeit voraus sein? Wenn das möglich ist, dann trifft es gerade auf das Trio Dell-Lillinger-Westergaard zu. 2021 hat die Berliner Gruppe mit dem Album „Beats“ einen Pflog eingeschlagen. Auf innovative Weise schafften es die drei Musiker, Techniken der DJ-Culture, mit vertrakten Grooves sowie Fragmenten aus Jazz und der avantgardistischen E-Musik zu verschalten, was einen Sound aufleuchten ließ, der momentan als einer der aufregendsten Entwürfe der „Music formerly known as Jazz“ gelten kann. 

In den zwölf Jahren ihres Bestehens haben Dell-Lillinger-Westergaard, die auch unter dem Kürzel DLW firmieren, ein einzigartiges Konzept entwickelt, das auf Repetition und Differenz basiert. Der Ausgangspunkt für ein Stück bildet stets ein einzelner Takt, der rhythmisch verschachtelt und trancehaft wiederholt wird, bis kleinste Unregelmäßigkeiten auftreten, die festgeschrieben und kreativ weiterverarbeitet werden. Aus dieser „Überlagerungskombinatorik“ (Christopher Dell) entspinnt sich ein Perpetuum-Mobile-artiger Flow, der auf Schallplatte durch Klangverfremdungen und Cut-Up-Techniken noch radikalisiert wird. 

Christopher Dell (Jahrgang 1965), mit einem Background in Philosophie, der im Zweitberuf Architekturtheorie lehrt, ist der intellektuelle Kopf der Gruppe. Zwischen seinem ersten Album 1988 mit dem Bujazzo, dem deutschen Bundesjazzorchester, und der aktuellen Einspielung des DLW-Trios liegen nicht nur 35 Jahren, sondern Welten – Klangwelten! 


Christopher Dell (Foto: Astrid Ackermann)




 

Nach einem Studium beim Vibrafonisten Gary Burton am renommierten Berklee College of Music in Boston, kehrte Dell nach Deutschland zurück, um mit Saxofonaltmeister Heinz Sauer und Schlagzeug-Größe Wolfgang Haffner zu musizieren. Danach begann für den Vibrafonisten die langwierige Erkundung einer Idee, die ihn immer weiter weg vom amerikanischen Jazz und tiefer hinein in die Gefilde der europäischen E-Musik-Avantgarde führten, ein Paradigmenwechsel, den er mit Christian Lillinger (Drums) und Jonas Westergaard (Bass) noch entschiedener vollzog. „Als Europäer schwebte mir eine andere Form von Jazz vor als die amerikanische,“ beschreibt Dell seinen Standpunkt.

Die Abkehr vom amerikanischen Modell fand allerdings nicht im Zeitraffer statt, sondern war eine kollektive, langwierige, intellektuelle und praktische Anstrengung. „Unser Konzept ist nur durch unablässiges Proben als Gruppe zu erreichen,“ erklärt Dell. „Die Musik muß ins Unterbewußtsein eingehen, in den Körper und die Motorik übergehen, sonst funktioniert es nicht.“ Die drei nutzten die Zwangspause der Pandemie, um sich in intensivste Probearbeit zu stürzen, war doch plötzlich ein Übermaß an Zeit vorhanden. Dell ist sich sicher: „Unter normalen Bedingungen hätten wir das nie geschafft!“ 

Die unermüdliche Übungspraxis setzt einen starken Glauben an die gemeinsame Kunstmission und ein hohes Maß an Pflichtbewußtsein voraus, was in der Jazzszene heute alles andere als üblich ist, kommen Musiker doch meistens nur recht flüchtig für eine paar Auftritte zusammen. Anders Dell-Lillinger-Westergaard: Seit zwölf Jahren besteht die Formation in derselben Besetzung, wobei nur für spezielle Projekte Gastmusiker herangezogen werden, ob der Violinist Mat Maneri, die Pianistin Tamara Stefanovich oder die E-Musik-Avantgardisten vom Klangforum Wien. 


Dell-Lillinger-Westergaard & Brecht – live / Evangelische Stueler Kirche, Peitz (Youtube)




 

Solche langjährige Hingabe an ein einziges Bandprojekt ist selten, weil nicht leicht mit dem Leben als Jazzmusiker zu vereinbaren, da man – gerade in Berlin – in vielen Gruppen aktiv sein muß, um finanziell über die Runden zu kommen. Als hochgefragte Musiker der dortigen Szene sind Dell, Lillinger und Westergaard in etliche Seitenprojekte involviert. Vor allem der junge Schlagzeug-Star Christian Lillinger brennt vor Energie und hält gleich mehrere Bandprojekte am Laufen, ob das Trio Punkt.Vrt.Plastik, das Quartett Amok Amor oder das Duo mit dem Tastenmusiker Elias Stemeseder. Daneben spielt er außerdem in einer Supergruppe mit dem Keyboard-Meister Michael Wollny und dem französischen Saxofonstar Émile Parisien zusammen. Trotz all der Aktivitäten gelingt es Dell-Lillinger-Westergaard immer wieder, Auszeiten fürs Proben zu finden.

 

Zur Ensemblearbeit kommt das Solospiel. Da die Arbeit in der Gruppe für Christopher Dell immer Vorrang hatte, haben erst Konzertanfragen ihn zu einem Soloprogramm inspiriert. Ganz Methodiker, schuf der Vibrafonist zuerst unter der Überschrift „Monodosis“ einen Rahmen, um die Sache nicht zerflettern zu lassen. Mit dem Terminus „Fond“ werden die einzelnen Stücke bezeichnet, die durch das Entstehungsdatum oder die Nummer der Schallplatte, auf der sie erschienen sind, einen formelhaften Titel erhalten. 

 

Wie andere Leute Frühgymnastik machen, tritt Dell jeden Morgen an sein Instrument, um den Tag mit einer ersten Übungssession zu beginnen. „Es werden Spieltechniken ausgelotet, sowie die Klangmöglichkeiten des Vibrafons erforscht,“ erklärt er. Sein oszillierend-flirrender Sound, dem das Psychedelische von Natur aus eingeschrieben zu sein scheint, macht das Vibrafon als Schlaginstrument einerseits extrem konkret und körperlich, gleichzeitig hochgradig abstrakt, kurzum: zum idealen Klangerzeuger eines Stroms schwebender Töne, die feinnervig wuchern, sich verästeln und verzweigen und so die ganze Klanglichkeit des Vibrafons zum Vorschein bringt. Für den Berliner Musiker hat die jahrelange „musikalische Recherchearbeit“ Früchte getragen. Seine „neue Neue Musik“ (Dell) ist, ob im Solospiel oder bei DLW, wenn nicht ihrer Zeit voraus, so doch vollkommen einzigartig.  

 

Dell-Lillinger-Westergaard: Beats 2 (Plaist)

Dell-Lillinger-Westergaard: Extended Beats (bastille musique; erscheint im Herbst 2023)

Christopher Dell: Monodosis III (Edition Niehler Werft)


Der Text erschien zuerst in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ)

 

 

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