STEVE IGNORANT - Interview mit dem Crass-Sänger
ROCK-ARCHÄOLOGIE 4:
Das große ANTI -
ein Jahr nach den "Riots"
Letzten Sommer brannten in England die Innenstädte. Steve Ignorant, Sänger der
legendären Anarcho-Punk-Band Crass, gibt Auskunft über die Situation heute
Interview von Christoph Wagner
Punk war rotzig, rüpelhaft und
rebellisch. Punk plus Politik - das war Crass, die vielleicht radikalste Band
der Punk-Ära. Die Gruppe stand für Anarcho-Punk, der mehr war als Nihilismus
und Auflehnung gegen die Elterngeneration. Crass kämpften für konkrete Ziele.
Ihre Songs waren Agit-Prop on Speed. Ihrer Haltung: das große ANTI! Crass
nahmen Kapitalismus, Kirche, Rassismus und Sexismus ins Visier. Sie lehnten den
Staat ab sowie die buntglitzernde Warenwelt. Jede Art von Autorität wurde
frontal angegangen, was für die Außenwelt oft schockierend war. Die Arbeiter im
Presswerk in Irland weigerten sich, ihre Debutplatte zu drucken: Blasphemie
lautete der Vorwurf. Daraufhin machte die Band es eben selber. Als alternative
“Cottage-Industry” brachten sie von nun an ihre Alben selber heraus mit eigenem
“Art work”, zudem kreierten sie Filme und Bühnendekoration.
Nach jahrelanger Auszeit hat
Leadsänger und Bandgründer Steve Ignorant vor ein paar Jahren angefangen, die
Songs von Crass, inzwischen Hymnen der
Punkgeneration, wieder öffentlich aufzuführen. Im November in London 2011 waren sie
zum allerletzten Mal “live” zu hören.
Crass wurden 1977 gegründet. Was
waren die Zeitumstände?
Steve Ignorant: Ende der 70er
Jahre und bis in die 80er Jahre hinein war England ein trostloser Ort: Streiks,
Stromausfälle, hohe Arbeitslosigkeit -
in jeder Hinsicht entsetzlich. Und dann gab es Punk, die musikalische
Revolte. Das war die Atmosphäre, in der sich Crass formierte, weil Leute Songs
darüber schrieben - ich eingeschlossen. Als dann Margaret Thatcher an die Macht
kam, wurde alles noch schlimmer. Das war der Anlaß für Crass politisch zu werden.
Wir hatten uns bis dahin nicht als politisch begriffen, wurden aber von der
Regierung regelrecht dazu gezwungen wie viele andere Bands auch. Es war so
repressiv in England, dass man genötigt wurde, Stellung zu beziehen. Es gab
keine Alternative als sich zu wehren.
Punk war ein Phänomen der
Metropolen. Crass lebte als Wohngemeinschaft auf dem Land. Warum?
Steve Ignorant: Auf dem Land war
es billiger. Wir zahlten fast keine Miete für den Bauernhof. Dieses Haus war
schon vor der Punk-Ära ein Treffpunkt für kreative Leute gewesen: Künstler,
Poeten, Musiker, Filmemacher, Schauspieler lebten dort oder kamen zu Besuch. Es
war äußerst stimulierend, und Crass ging daraus hervor. Penny Rimbaud lebte
dort, den ich seit der Schulzeit kannte. Ich besuchte ihn eines Tages und
erzählte ihm, dass ich eine Punkband gründen wollte. Er sagte: “Ich hab’ ein
Schlagzeug, ich bin dabei!” So fing es an. Leute, die uns dann in Essex
besuchten und ein Instrument spielen konnten, stiegen ein. Auf diese Weise kam
die Gruppe zustande.
Als die Unruhen im letzten Sommer in
London passierten, brachte das
Erinnerungen zurück?
Steve Ignorant: Nur an meine
Fussball-Hooligan-Zeit, als ich ein Fan von Westham United war und gelegendlich
randalierte, nur um der Randale willen. Darüber hinaus konnte ich mich mit den
Ausschreitungen nicht identifizieren, weil sie kein politisches Ziel
verfolgten, etwa das Leben der Leute zu verbessern oder die Gesellschaft zu
ändern. Es waren einfach nur Plünderungen. Okay, wenn Leute glauben, unbedingt
ein Paar Designer-Turnschuhe zu brauchen oder ein Flachbild-Fernsehgerät - dann
meinetwegen, aber bitte behauptet nicht, das hätte irgendetwas mit dem Umstand
zu tun, dass die Polizei irgendwo in London eine Person erschossen hat. Die
Schießerei fand in Tottenham in Nordlondon statt, dann sprangen die Unruhen
plötzlich nach Croydon über, das weit weg im Süden von London liegt. Was hatte
das eine mit dem anderen zu tun?
Politische Kommentatoren haben
die Sparmaßnahmen der britischen Regierung oder die größerwerdende Kluft
zwischen Arm und Reich verantwortlich
gemacht....
Steve Ignorant: Ich kann
verstehen, wenn es in Tottenham nach einem solchen Vorfall zu Ausschreitung
kommt. Danach nahm die Sache für mich einen sonderbaren Verlauf. Ich habe
nichts mit Verschwörungstheorien am Hut, aber ich kenne einige der Orte, wo die
Unruhen stattfanden, ziemlich genau und bin sicher, dass die Polizei sie in ein
paar Minuten hätte ersticken können. Das ist nicht passiert. Man ließ die
Plünderungen geschehen. Warum? Die Randalierer haben dann drakonische Strafen
erhalten. Vielleicht hat man die Unruhen stattfinden lassen, um das Feld zu
bereiten. Wenn das nächtse Mal eine legitime Demonstration gegen Krieg oder
Sozialabbau stattfindet und ein paar Fensterscheiben zu Bruch gehen, dann kann
man umso brutaler gegen die Demonstranten vorgehen.
Im Parlament wurden die
Randalierer als “verwilderte Unterschicht” bezeichnet...
Steve Ignorant: Das ist das
Geschwätz gutbetuchter Tory-Politiker, die fett leben und keinen Schimmer davon
haben, wie es am unteren Rand der Gesellschaft aussieht. Klar, diese Leute
haben in ihrem ganzen Leben noch nie irgend etwas Ungesetzliches getan! Unser
wundervoller Premierminister, David Cameron, gehörte zu einer
Studentenverbindung namens “The Bullingdon Club” in Oxford, die sich auf
Sauftouren wie die Vandalen aufführten. Wenn solche Upperclass-Rowdys jetzt von
der “verwilderter Unterschicht” sprechen, ist das nichts als eine rassistische
Verallgemeinerung. Viel schlimmer als die Randale selber, waren die Politiker,
die danach an die Mikrofone traten und die Leute verdammten. Ich kann zu einem
gewissen Grad verstehen, wie man als Jugendlicher in eine solche Situation
geraten kann: Du hast nie Geld, und dann bietet sich plötzlich die Gelegenheit,
an diese heißbegehrten Sachen zu kommen. Klar, dass du denkst: ‘Scheiß drauf -
diese Chance lass ich mir nicht entgehen!’ Wir haben in den letzten Jahren,
Bankmanager erlebt, die Hunderte von Millionen verwettet haben und dann noch
mit fetten Boni dafür belohnt wurden. Keiner von denen ist je im Gefängnis
gelandet, obwohl deren Aktivitäten unendlich mehr Schaden angerichtet haben.
Dann gab es den Spesenbetrug unter den Abgeordneten, danach das kriminelle
Telefonabhören durch Journalisten, deren Chefs mit Polizei und Regierung
freundschaftliche Beziehungen pflegten. Da wirkt es geradezu lächerlich von
“verwilderter Unterschicht” zu sprechen. Um heute ein Gangster zu sein, muss du
nicht mit einer abgesägten Flinte eine Bank ausrauben, dafür gibt es viel
elegantere Methoden. Viel erfolgreicher sind die Plünderer mit Anzug und
Kravatte.
Crass stand für Anarcho-Punk.
Eure Texte nahmen kein Blatt vor den Mund. Haben sich deine politischen
Ansichten seither geändert?
Steve Ignorant: Ich definiere
mich heute nicht mehr als Anarchisten, weil es ein zu abstrakter Begriff ist,
der missverstanden wird, nicht konkret genug ist. Leute stellen sich alles
möglich unter Anarchismus vor. Dennoch kommt der Anarchismus immer noch meinen
politischen Vorstellungen am nächsten. Früher war ich ein wütender junger Mann,
heute bin ich ein wütender Erwachsener und irgendwann werde ich ein wütender
alter Mann sein. Ich habe weiterhin etwas gegen die Kirche als Institution, und
kaufe nur Dinge, die ich wirklich brauche, vielleicht auch deshalb, weil ich
mir teurere Sachen sowieso nicht leisten kann. Obwohl ich heute nicht mehr so oft auf
Demos gehe, lasse ich Rassismus, Sexismus und solche Dinge in meinem Umfeld
nicht durchgehen. Wenn im Pub einer solche Ansichten vertritt, gibt es Zoff. Da
ist es mir dann auch egal, wenn ich mir ein blaues Auge hole. Das wäre nicht
das erste Mal und es wird sicher nicht das letzte Mal sein.
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