Monday, 27 August 2012

STEVE IGNORANT - Interview mit dem Crass-Sänger


ROCK-ARCHÄOLOGIE 4:

Das große ANTI  - 

ein Jahr nach den "Riots"


Letzten Sommer brannten in England die Innenstädte. Steve Ignorant, Sänger der legendären Anarcho-Punk-Band Crass, gibt Auskunft über die Situation heute



Interview von Christoph Wagner
 
Punk war rotzig, rüpelhaft und rebellisch. Punk plus Politik - das war Crass, die vielleicht radikalste Band der Punk-Ära. Die Gruppe stand für Anarcho-Punk, der mehr war als Nihilismus und Auflehnung gegen die Elterngeneration. Crass kämpften für konkrete Ziele. Ihre Songs waren Agit-Prop on Speed. Ihrer Haltung: das große ANTI! Crass nahmen Kapitalismus, Kirche, Rassismus und Sexismus ins Visier. Sie lehnten den Staat ab sowie die buntglitzernde Warenwelt. Jede Art von Autorität wurde frontal angegangen, was für die Außenwelt oft schockierend war. Die Arbeiter im Presswerk in Irland weigerten sich, ihre Debutplatte zu drucken: Blasphemie lautete der Vorwurf. Daraufhin machte die Band es eben selber. Als alternative “Cottage-Industry” brachten sie von nun an ihre Alben selber heraus mit eigenem “Art work”, zudem kreierten sie Filme und Bühnendekoration.
Nach jahrelanger Auszeit hat Leadsänger und Bandgründer Steve Ignorant vor ein paar Jahren angefangen, die Songs von Crass,  inzwischen Hymnen der Punkgeneration, wieder öffentlich aufzuführen. Im November in London 2011 waren sie zum allerletzten Mal “live” zu hören.
 
Crass wurden 1977 gegründet. Was waren die Zeitumstände?
 
Steve Ignorant: Ende der 70er Jahre und bis in die 80er Jahre hinein war England ein trostloser Ort: Streiks, Stromausfälle, hohe Arbeitslosigkeit -  in jeder Hinsicht entsetzlich. Und dann gab es Punk, die musikalische Revolte. Das war die Atmosphäre, in der sich Crass formierte, weil Leute Songs darüber schrieben - ich eingeschlossen. Als dann Margaret Thatcher an die Macht kam, wurde alles noch schlimmer. Das war der Anlaß für Crass politisch zu werden. Wir hatten uns bis dahin nicht als politisch begriffen, wurden aber von der Regierung regelrecht dazu gezwungen wie viele andere Bands auch. Es war so repressiv in England, dass man genötigt wurde, Stellung zu beziehen. Es gab keine Alternative als sich zu wehren. 


 
Punk war ein Phänomen der Metropolen. Crass lebte als Wohngemeinschaft auf dem Land. Warum?
 
Steve Ignorant: Auf dem Land war es billiger. Wir zahlten fast keine Miete für den Bauernhof. Dieses Haus war schon vor der Punk-Ära ein Treffpunkt für kreative Leute gewesen: Künstler, Poeten, Musiker, Filmemacher, Schauspieler lebten dort oder kamen zu Besuch. Es war äußerst stimulierend, und Crass ging daraus hervor. Penny Rimbaud lebte dort, den ich seit der Schulzeit kannte. Ich besuchte ihn eines Tages und erzählte ihm, dass ich eine Punkband gründen wollte. Er sagte: “Ich hab’ ein Schlagzeug, ich bin dabei!” So fing es an. Leute, die uns dann in Essex besuchten und ein Instrument spielen konnten, stiegen ein. Auf diese Weise kam die Gruppe zustande.
 
Als die Unruhen im letzten Sommer in London passierten, brachte das  Erinnerungen zurück?
 
Steve Ignorant: Nur an meine Fussball-Hooligan-Zeit, als ich ein Fan von Westham United war und gelegendlich randalierte, nur um der Randale willen. Darüber hinaus konnte ich mich mit den Ausschreitungen nicht identifizieren, weil sie kein politisches Ziel verfolgten, etwa das Leben der Leute zu verbessern oder die Gesellschaft zu ändern. Es waren einfach nur Plünderungen. Okay, wenn Leute glauben, unbedingt ein Paar Designer-Turnschuhe zu brauchen oder ein Flachbild-Fernsehgerät - dann meinetwegen, aber bitte behauptet nicht, das hätte irgendetwas mit dem Umstand zu tun, dass die Polizei irgendwo in London eine Person erschossen hat. Die Schießerei fand in Tottenham in Nordlondon statt, dann sprangen die Unruhen plötzlich nach Croydon über, das weit weg im Süden von London liegt. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun?
 
Politische Kommentatoren haben die Sparmaßnahmen der britischen Regierung oder die größerwerdende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht....
 
Steve Ignorant: Ich kann verstehen, wenn es in Tottenham nach einem solchen Vorfall zu Ausschreitung kommt. Danach nahm die Sache für mich einen sonderbaren Verlauf. Ich habe nichts mit Verschwörungstheorien am Hut, aber ich kenne einige der Orte, wo die Unruhen stattfanden, ziemlich genau und bin sicher, dass die Polizei sie in ein paar Minuten hätte ersticken können. Das ist nicht passiert. Man ließ die Plünderungen geschehen. Warum? Die Randalierer haben dann drakonische Strafen erhalten. Vielleicht hat man die Unruhen stattfinden lassen, um das Feld zu bereiten. Wenn das nächtse Mal eine legitime Demonstration gegen Krieg oder Sozialabbau stattfindet und ein paar Fensterscheiben zu Bruch gehen, dann kann man umso brutaler gegen die Demonstranten vorgehen.
 
Im Parlament wurden die Randalierer als “verwilderte Unterschicht” bezeichnet...
 
Steve Ignorant: Das ist das Geschwätz gutbetuchter Tory-Politiker, die fett leben und keinen Schimmer davon haben, wie es am unteren Rand der Gesellschaft aussieht. Klar, diese Leute haben in ihrem ganzen Leben noch nie irgend etwas Ungesetzliches getan! Unser wundervoller Premierminister, David Cameron, gehörte zu einer Studentenverbindung namens “The Bullingdon Club” in Oxford, die sich auf Sauftouren wie die Vandalen aufführten. Wenn solche Upperclass-Rowdys jetzt von der “verwilderter Unterschicht” sprechen, ist das nichts als eine rassistische Verallgemeinerung. Viel schlimmer als die Randale selber, waren die Politiker, die danach an die Mikrofone traten und die Leute verdammten. Ich kann zu einem gewissen Grad verstehen, wie man als Jugendlicher in eine solche Situation geraten kann: Du hast nie Geld, und dann bietet sich plötzlich die Gelegenheit, an diese heißbegehrten Sachen zu kommen. Klar, dass du denkst: ‘Scheiß drauf - diese Chance lass ich mir nicht entgehen!’ Wir haben in den letzten Jahren, Bankmanager erlebt, die Hunderte von Millionen verwettet haben und dann noch mit fetten Boni dafür belohnt wurden. Keiner von denen ist je im Gefängnis gelandet, obwohl deren Aktivitäten unendlich mehr Schaden angerichtet haben. Dann gab es den Spesenbetrug unter den Abgeordneten, danach das kriminelle Telefonabhören durch Journalisten, deren Chefs mit Polizei und Regierung freundschaftliche Beziehungen pflegten. Da wirkt es geradezu lächerlich von “verwilderter Unterschicht” zu sprechen. Um heute ein Gangster zu sein, muss du nicht mit einer abgesägten Flinte eine Bank ausrauben, dafür gibt es viel elegantere Methoden. Viel erfolgreicher sind die Plünderer mit Anzug und Kravatte.
 
Crass stand für Anarcho-Punk. Eure Texte nahmen kein Blatt vor den Mund. Haben sich deine politischen Ansichten seither geändert?
 
Steve Ignorant: Ich definiere mich heute nicht mehr als Anarchisten, weil es ein zu abstrakter Begriff ist, der missverstanden wird, nicht konkret genug ist. Leute stellen sich alles möglich unter Anarchismus vor. Dennoch kommt der Anarchismus immer noch meinen politischen Vorstellungen am nächsten. Früher war ich ein wütender junger Mann, heute bin ich ein wütender Erwachsener und irgendwann werde ich ein wütender alter Mann sein. Ich habe weiterhin etwas gegen die Kirche als Institution, und kaufe nur Dinge, die ich wirklich brauche, vielleicht auch deshalb, weil ich mir teurere Sachen sowieso nicht leisten kann. Obwohl ich heute nicht mehr so oft auf Demos gehe, lasse ich Rassismus, Sexismus und solche Dinge in meinem Umfeld nicht durchgehen. Wenn im Pub einer solche Ansichten vertritt, gibt es Zoff. Da ist es mir dann auch egal, wenn ich mir ein blaues Auge hole. Das wäre nicht das erste Mal und es wird sicher nicht das letzte Mal sein.
 

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