Saturday 26 August 2023

Interview mit Robert Wyatt von Anfang 2021

“Ich verweigere mich der Tyrannei des Jetzt!“

 

Robert Wyatt über Jazz als Erleuchtung und als magische Kunst, Soft Machine, Matching Mole und ein Buch, das er mit seiner Frau Alfie Benge herausgegeben hat



Interview von Christoph Wagner

 

Robert Wyatt, 1945 in Bristol geboren, ist einer der profiliertesten Eigenbrötler der britischen Popszene. Als Teil der sogenannten “Canterbury Scene” wurde der Schlagzeuger Ende der 1960er Jahre mit Soft Machine bekannt. Nach einem Unfall, der ihn gelähmt zurückließ und fortan an den Rollstuhl fesselte, tat sich Wyatt als eigenwilliger Sänger und Songwriter hervor, der auf seinen diversen Soloalben mit Rockstars wie David Gilmore, Nick Mason (beide Pink Floyd), Phil Manzanera, Brian Eno (beide Roxy Music), Björk und Paul Weller zusammenarbeitete, aber auch Jazzmusiker wie Mongezi Feza oder Annie Whitehead heranzog. Seit Jahren lebt Wyatt zurückgezogen in der Grafschaft Lincolnshire und hat sich seit 2014 offiziell in den Ruhestand verabschiedet, den er jedoch immer wieder einmal verläßt. Zusammen mit seiner Frau Alfie Benge hat er das Buch “Side by Side” publiziert, das die Songlyrics der beiden seit den 1970er Jahren enthält. Außerdem war sein Gesang auf drei Songs des neuen Code-Girl-Albums (Titel: Artless Falling) der amerikanischen Gitarristin und Komponistin Mary Halvorson zu hören.

 

Sie sind seit längerem wegen einer Druckwunde (Dekubitus) ans Bett gebunden. Dazu kommt der Lockdown wegen der Pandemie. Welche Rolle spielt Musik in ihrem derzeitigen Alltag?

 

Robert Wyatt: Eine wichtige. Seit Wochen spiele ich immer wieder das neue Album von Mary Halvorson und ihrer Gruppe Code Girl. Es ist eine fantastische Platte, deren Musik mich fasziniert und bestimmt nicht deswegen, weil ich auf ein paar Titeln mit von der Partie bin. Ich halte “Artless Falling“ für eine wunderbare Einspielung, auf Augenhöhe mit den Besten der Besten, mit Mingus, Monk und Musikern solchen Kalibers. Die beteiligten Instrumentalisten sind grandios. Was mir besonders gefällt, ist, wenn die Musik scheinbar in freien Jazz übergeht, was aber eine Täuschung ist, weil jeder weiterhin im Takt bleibt. Es ist wie bei einem Schwarm von Fischen, der plötzlich komplett die Richtung ändert. Man fragt sich: “Wie ist das möglich in einer solchen Blitzgeschwindigkeit, ohne dass sie miteinander kollidieren?” Ähnlich intuitiv agiert die Gruppe von Mary Halvorson – einfach fabelhaft! Neben diesem aktuellen Album höre ich viel nostalgische Musik, Hardbop aus meiner Jugendzeit von Art Blakey oder Horace Silver. 

 

Hören Sie Musik übers Internet?

 

RW: Mein Sohn Sam, der Krankenpfleger ist und in seinen Fünfzigern, ist sehr technikaffin. Er versucht mich ständig ins 21. Jahrhundert zu zerren – mit bescheidenem Erfolg: Ich habe keinen Computer. Das Internet benutze ich nicht. Ich bin ein Leben lang ohne ausgekommen. Was soll das bringen? Allerdings hat mir Sam dieses kleine Alexa-Gerät installiert. Anfangs war ich skeptisch und fragte: “Kann ich damit russische Musik hören?” Sam musste das verneinen, außer vielleicht Rachmaninoff. Doch mit der Zeit entdeckte ich, was für eine tolle Sache Alexa ist. Ich frage nach Sonny Rollins und das Gerät spielt Stunden lang Musik von Rollins. Auch Titel, die ich noch nicht kannte. Oder Lee Konitz, der wunderbare Altsaxofonist, der so gedämpft spielt, was mir sehr behagt. Natürlich gibt es auch viel Schrott, aber wenn Alexa gut ist, ist sie wirklich gut. Das Gerät ist zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden. Oft schlafe ich schlecht, habe Schmerzen und wache mitten in der Nacht auf. Dann setzte ich den Kopfhörer auf und Alexa und Sonny Rollins retten mich bis zum Morgen.

 

Was ist der Beweggrund für Sie, überhaupt Musik zu hören?

 

RW: Ich höre Musik nicht um der Musik Willen, sondern um einer Stimmung oder Gemütslage nachzugehen, meistens aus nostalgischen Gefühlen. Das hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass Kunst historisch nicht besser geworden ist, sondern nur ihr Gesicht verändert hat. Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst oder in der Musik, und das Gegenteil zu behaupten, ist albern. Kunst sieht nur anders aus, und Musik hört sich nur anders an. Der Satz “eine bestimmte Musik ist ihrer Zeit voraus” ergibt für mich keinen Sinn. Deshalb habe ich null Ehrgeiz, auf der Höhe der Zeit zu sein und immer den neusten Trends nachzujagen. Davon habe ich mich schon vor Jahren verabschiedet. Wer kann die vielfältigen musikalischen Entwicklungen heute überhaupt noch übersehen bei dieser inflationären Überproduktion.

 

Wird mit dieser Erkenntnis aber nicht auch der Begriff der Avantgarde obsolet?

 

RW: Möglich. Oft waren ja Afroamerikaner die wirklichen Avantgardisten. Normalerweise hat zehn Jahre später jemand in Großbritannien ihre Musik kopiert und sich dann selbst als Avantgarde ausgerufen, was lächerlich ist. Die wirklichen Erfinder fielen dabei unter den Tisch. Charlie Parker wird von der Musikwissenschaft übergangen, wogegen Arnold Schoenberg gefeiert wird, weil er “einer von uns” ist. Dabei ist es absolut erstaunlich, welche Töne Charlie Parker zusammenbindet – unglaublich! Doch dafür erfährt er vom etablierten Musikbetrieb kaum Respekt. Als Dizzy Gillespie einmal gefragt wurde, was er an Charlie Parker schätzen würde, antwortete er: “Wie er von einer Note zur nächsten kommt!” Gillespie hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch hat Parker dafür nie die Anerkennung erhalten, die ihm gebührt. Für mich ist er einer der Helden meiner Jugend, und an meiner Bewunderung hat sich seither nichts geändert, sie ist höchstens noch größer geworden.


Robert Wyatt, daheim in Louth, 2007 (Foto: C. Wagner)



Wie kamen Sie zu Charlie Parker und zum Jazz überhaupt?

 

RW: Durch meinen älteren Bruder, der Jazzplatten hatte. Mein Vater hat sich dagegen eher für moderne Klassik interessiert: Bartok, Benjamin Britten, Hindemith. Aber er mochte auch Fats Waller sowie Duke Ellington. Da er Piano spielte, sah er natürlich, dass Fats Waller wirklich Klavier spielen konnte. Was Waller mit der linken Hand macht, ist erstaunlich. Ich sah Louis Armstrong mit dem Titel “Basin Street Blues“ im Film “The Glenn Miller Story“ mit James Stewart und June Allyson und war begeistert. Ich wurde dadurch ein Fan von schwarzer amerikanischer Musik und musste weinen, so schön empfand ich diese Nummer. Es war eine der ersten Schallplatten, die ich von meinem eigenen Geld kaufte.

 

Gingen ihre Eltern damals in Konzerte mit Ihnen?

 

RW: Da wir im Umland von London wohnten, besuchte meine Mutter mit mir Museen, aber auch Konzerte, Opern- und Ballettaufführungen in der Hauptstadt. An die Aufführung des Balletts “The Haunted Ballroom“ kann ich mich noch gut erinnern, weil mir das Bühnenbild magisch vorkam. Ich war damals so um die zehn Jahre alt und wie verzaubert. Aber die Begeisterung für Louis Armstrong war dann doch größer. Mein älterer Bruder hatte moderne Jazzplatten, Alben vom Modern Jazz Quartet etwa, was eine große Inspiration war. Ich erhielt damals Geigenunterricht, wechselte dann aber mit fünfzehn zur Trompete, was meinem Vater nicht gefiel. “Es gibt große Violinkonzerte, aber keine großen Trompetenkonzerte,“ gab er zu bedenken. Ich konterte mit dem Satz: “Ja, aber es gibt Miles Davis und Dizzy Gillespie.“ Deren Musik hatte ich in Paris kennengelernt, wo mich meine Eltern für längere Zeit bei Freunden untergebracht hatten. Und meine Gastgeber hatten Schallplatten von Miles und Dizzy. Niemand in England hatte damals solche Scheiben. Für mich war das eine Erleuchtung.

 

Kellerclubs waren damals der Ort, wo Jazz stattfand.…

 

RW: Das konnte ich mir nicht leisten. Als Duke Ellington nach England kam, besuchte ich eines seiner Konzerte, das spektakulär war. Es fand in einer Konzerthalle statt, und wir hatte Sitzplätze hinter der Band. Als ich nach einem Trompetensolo spontan Beifall klatschte, drehte sich der Trompeter um, und winkte mir zu. Ich war überwältigt vor Glück, dass der Trompeter von Ellington mir zugewunken hatte. Ellingtons Musik ist fantastisch, die Arrangements so erfinderisch und abwechslungsreich. Ich bin froh darüber, 1945 geboren zu sein, weil ich außer Ellington auch Eric Dolphy zweimal ‘live’ erleben konnte. Zuerst mit Charles Mingus, dann mit John Coltrane. Beide zählen bis heute zu meinen Favoriten. Mingus war so kreativ in seinen Arrangements, die melodischen Ideen sind außergewöhnlich und seine Musik visionär. Das Konzert der Mingus Band mit Eric Dolphy wurde nur noch von einem Auftritt des John Coltrane Quartets übertroffen, ebenfalls mit Dolphy. Damals wohnte ich nicht mehr bei meinen Eltern. Der Auftritt war absolut magisch, die Dramaturgie allein schon ungeheuer. Zuerst spielte die Ryhthmusgruppe mit Elvin Jones und McCoy Tyner alleine für etliche Minuten. Sie spielten ein ganz einfaches Riff, das anfangs ziemlich abgehangen, ja fast verschlafen wirkte, das sie dann aber ganz langsam immer mehr steigerten, ja geradezu hochpeitschten. Als sie dann diesen hypnotischen Groove erreicht hatten, betraten Coltrane und Dolphy die Bühne – von entgegengesetzten Seiten. Als sie sich in der Bühnenmitte trafen, setzten sie mit ihren Hörnern ein und es war unfaßbar. Die Kraft ihres Spiels haute mich schlichtweg um. 


Soft Machine, 1967 / vlnr Kevin Ayers, Robert Wyatt, Mike Ratledge (Foto: Promo/Cuneiform) 


Waren solche Konzerte für Sie der Impuls, Musiker werden zu wollen?

 

RB: Bevor die Beatmusik in Mode kam, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Schlagzeuger oder Musiker werden zu wollen. Aber als ich die Beatles oder die Stones das erste Mal hörte, dachte ich: “Das kann ich auch!”

Später dämmerte mir, dass es doch nicht so leicht ist, einen Sänger oder eine Sängerin mit dem Schlagzeug gut zu begleiten. Man muß sich zurückhalten, zurücknehmen, das Spiel in den Dienst des Songs stellen. Das lag mir nie. Schlagzeuger haben einen Minderwertigkeitskomplex. Sie glauben immer beweisen zu müssen, dass sie richtige Musiker sind. Deshalb trommeln sie meistens zu viel und viel zu laut. Sie wollen zeigen, was sie alles können. Das ist ein Problem. Man sollte sich vor Publikum eher zurückhalten, sich nicht  produzieren und fortwährend mit seinem Können protzen. Das hat etwas Exhibitionistisches. Miles Davis ging sogar noch weiter. Er sprach nicht mit dem Publikum. Er biederte sich nicht an. In dieser Distanz liegt eine Würde. Er blieb diese mystische Figur, weil er nicht mit Dir als Zuhörer sprach. Es war, wie wenn Du nur zufällig da wärst, und er im gleichen Raum zufällig mit seiner Band musizieren würde. Auch die Signale an seine Band war recht kryptisch. Er sagte nichts, drehte sich nicht einmal zu den Musikern um, sondern streckte nur zwei Finger in die Höhe und los gings. Da muss Du als Musiker jeden Moment hellwach sein. Das verlangt ungeheure Disziplin und beeindruckte mich schwer.

 

Sie haben gelegentlich Elvin Jones, den Drummer des Coltrane Quartets, als Einfluß genannt?

 

RW: Ich erinnere mich an ein Coltrane-Stück, bei dem Elvin Jones ein paar kurze Soli trommelt, immer 4-Takte lang, das übliche 4/4-Spiel. Nur spielt er nicht die üblichen Wirbel, sondern sein Spiel hatte eine rollende, wellenartige Qualität. Er ist immer vollkommen im Takt, aber es klingt nicht so, eher wie Freejazz. Es war, wie wenn er auf magische Weise zu den Anfängen des Swing zurückgekehrt wäre. Auch schloß er diese kurzen Soli nicht mit dem üblichen Beckenschlag und einem Kick in die Baßtrommel ab, sondern er setzte den Akzent einen Takt später, was echt verwegen war – eigentlich ungeheuerlich! Ein Bruch mit der Konvention – aber das war Elvin Jones! Dafür bewundere ich ihn. Kunst gefällt mir, wenn Künstler das Leben simulieren und Kunst zu einem lebenden Etwas machen. Elvin Jones war eine solche lebendige Kraft. Sein Spiel hatte nichts Mechanisches, vielmehr atmete es und pulsierte. 

 

Gab es noch andere Drummer, die Sie beeinflußten?

 

RW: Ein wichtiger Einfluß war mein Schlagzeuglehrer George Niedorf, ein Amerikaner, der in England lebte. Seine Haltung war: “Es gibt nur zwei Arten Schlagzeug zu spielen: Wie Philly Joe Jones oder falsch!” Er versuchte mir also das Schlagzeugspiel à la Philly Joe Jones beizubringen, was weit über mein Verstehen und Vermögen hinausging. Dennoch bin ich ihm dankbar. Ich bin froh zu wissen, wie Philly Joe Jones spielt, auch wenn ich das selber nie konnte. Ich kenne viele Musiker, die etwas Schwieriges lernen, um dann ein Leben lang schwierige Musik zu machen. Aber Technik ist kein Selbstzweck. Bob Dylan ist alles andere als ein Virtuose. Er hat soviel Technik, wie er braucht. Man sollte sich grundsätzlich fragen: “Zu was ist Musik nütze? Zu was ist sie gut?” Und daran sollte man sich ausrichten.


Soft Machine, 1968 vlnr Mike Ratledge, Hugh Hopper, Robert Wyatt (Foto: Promo / Cuneiform)



Absolvierten Sie all die Trommelübungen, lernten die Schlagmuster, Wirbel und Paradiddle?

 

RW: Bis zu einem gewissen Grad. Ich habe mich bei Soft Machine mehr damit beschäftigt, wie die Band optimal begleitet werden kann und wie das Schlagzeug mit dem Bassisten am besten zusammenklingt. Ich bin ein Bandmusiker. Die Band war meine Schule. Mit Soft Machine spielten wir ja viel in ungeraden Metren, wobei es darum ging, diese vertrakten Takte organisch und natürlich klingen zu lassen und nicht kompliziert und geometrisch. In 7/4tel-, 13/8tel-Takten und 15ner-Metren zu spielen und sie natürlich fließen zu lassen – das war die eigentliche Herausforderung. Ich unterteilte diese komplizierten Metren in kleine Untereinheiten und folgte sonst den Melodien, die Mike Ratledge oder Hugh Hopper komponiert hatten. Die Melodien gaben Halt. Sie mußten einem in Fleisch und Blut übergehen. Mike Ratledge, der Organist von Soft Machine, wollte, dass ich Notenlesen lerne. Aber was sollte das bringen? Er hatte keine Ahnung vom Schlagzeugspiel, und ich wollte mich von ihm nicht belehren lassen. Aber dieser Konflikt war ein Grund, warum mich die Band 1971 feuerte. Dazu kam mein Gesang, den sie nicht mochten. Ich blieb für die übrigen Mitglieder einfach ein bisschen zu ungebildet und rustikal, während sie immer gebildeter wurden. Sie schmissen mich aber letztlich aus der Band, weil ich zuviel trank, ein Alkoholiker war, und mich übel aufführte. Sie sagten nichts, schauten sich nur gegenseitig stumm an.


Soft Machine, 1969 im französischen Fernsehen (Youtube) 

 

War das ein Schock, als sie aus der Band flogen?

 

RW: Für mich brach die Welt zusammen. Es war, wie wenn dich deine große Liebe verläßt. Soft Machine war meine Familie, die Freunde, mit denen ich dauernd rumhing. Ich hatte die anderen ja erst in die Band gebracht. Anfangs bestand Soft Machine nur aus David Allen, Kevin Ayers und mir. Und dann kicken dich die Neuen raus. Das war schon ein Schock. Ein Grund, warum ich trank, war: Die Band entwickelte sich in eine Richtung, die mir widerstrebte. Die anderen wollten Jazzrock spielen, was mir absolut nicht gefiel. 


Robert Wyatt am 4. November 1971 auf dem 'Violin Summit' bei den Berliner Jazztagen (Foto: Jörg Becker)




Jazzmusiker glaubten damals, besser Rockmusik spielen zu können als Rockmusiker, weil sie technisch versierter waren….

 

RW: Genau! Jazzmusiker meinten, weil sie techisch besser Gitarre spielen konnten, könnten sie auch Rockmusik besser spielen. Welch ein Irrtum! Außerdem war es etwas opportunistisch, hatte oft rein ökonomische Gründe. Sie verkannten, dass Rockmusik eine ganz eigene Kunst ist mit eigenen Spielregeln, Werten und Gesetzen. Rockmusik muss man leben, um sie richtig spielen zu können. Ich liebe Jazz mehr als jeder andere, aber ich bin kein Jazzmusiker. Für meine Alben, engagierte ich später oft Jazzmusiker, stellte sie aber in einen anderen Kontext. Stars wie Miles Davis wurden von der Entwicklung überrollt. Die Beat- und Rockmusik stießen ihn vom Thron der populären Musik. Mit seinem elektrischen Jazz versuchte er wieder Anschluß zu gewinnen. Er war eifensüchtig auf die Rockmusiker und ihr riesiges Publikum. Der Jazz verlor damals sein Selbstbewußtsein. Bei Soft Machine trat dieser Konflikt ebenfalls zutage. Die neue Jazzrock-Richtung ging mir dermaßen gegen den Strich, dass ich mich immer mehr betrank. Ich fühlte mich in der Falle, und der Alkohol war der Notausgang. Es kam vieles zusammen: Meine Eltern hatte mich aus dem Haus geworfen, und dann schmissen mich meine Kumpels noch aus meiner eigenen Band. Ich war seelisch am Ende. Ich habe es nie verwunden. Ich stand vor dem Nichts: Was sollte ich nun tun? Mein Schlagzeugspiel war vollkommen auf Soft Machine abgestellt. Ich konnte nur Schlagzeug mit Soft Machine spielen. Was jetzt? 


Matching Mole 1972 mit Robert Wyatt mit Maske (Youtube)



 

Sie haben dann die Gruppe Matching Mole aus der Taufe gehoben…

 

RW: Ja, aber das war irgendwie künstlich. Es fühlte sich nie richtig authentisch an wie bei Soft Machine. Die Rettung war mein Sturz aus dem Fenster. Danach war es aus mit dem Schlagzeugspiel. Ich musste mich neu orientieren.


Matching Mole, 1972 (Foto: Promo / Cuneiform)

 

Wie kam Matching Mole zustande?

 

RW: Ich kannte die Musiker durch gemeinsame Freunde, den Bassgitarristen Bill MacCormick schon seit der Kindheit, als wir noch in kurzen Hosen herumliefen. Das Problem von Matching Mole war, dass niemand so richtig das Ruder übernehmen wollte, auch was die Musik betraf. Das war alles zu zögerlich, zu zurückhaltend. Bei Matching Mole wartete jeder auf den anderen, die Sache in die Hand zu nehmen. Es war ein interessantes musikalisches Patchwork, dem aber die letzte Überzeugung, die Durchschlagkraft fehlte. Ich konnte nicht der Steuermann sein. Damit war ich hoffnungslos überfordert und versagte als Bandleader. Andererseits konnte ich aber auch niemanden aus der Band werfen. Dazu war ich einfach nicht imstande. Zwei Ereignisse befreiten mich aus der mißlichen Lage: Ich traf meine Frau Alfie und brach mir das Rückgrat. 

 

Wie wichtig war Alfie Benge?

 

RW: Absolut wesentlich. Ohne sie hätte ich das alles niemals geschafft. Alfie hatte Kunst studiert, als Kunstlehrerin gearbeitet und war an diversen Filmproduktionen beteiligt. Wir lagen auf der selben Wellenlänge und hatte ungefähr die gleichen Schallplattensammlungen, von Sly & The Family Stone bis zu John Coltrane. Während ihres Studiums hatte sie als Bedienung in London im Ronnie Scott’s Jazzclub gearbeitet und kannte die Lieblingsgetränke der verschiedenen Jazzstars. Sie wusste, was Sonny Rollins trank und Ben Webster – das imponierte mir mächtig.

 

Es entwickelte sich über die Jahre eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen…

 

RW: Schon für das zweite Matching Mole Album und mein zweites Soloalbum “Rock Bottom” lieferte Alfie ein paar Lyrics. Ihre Poesie hatte eine musikalische Qualität, was den Rhythmus der Worte und den Satzbau anbelangt.


Nach dem Unfall, 1973


Schrieb sie Worte für Ihre Melodien oder Sie Melodien für ihre Worte?

 

RW: Nein, nein. Ich kann keine Melodien für Worte finden. Normalerweise ist zuerst die Melodie da. Dann versuchte Alfie, passende Verse dafür zu schreiben. Doch manchmal, wenn sie spontan einen Vers geschrieben hatte, meinte ich, eine kleine Melodie darin zu hören. Wenn es gut lief, entwickelte sich etwas daraus. So funktioniert unsere Zusammenarbeit: Gemeinsam jeder für sich! Meine Liedtexte sind ja eher kryptisch. Sie dagegen beschreibt Bilder, erzählt Geschichten, berichtet über Ereignisse, die tatsächlich passiert sind. So ergänzen wir uns prächtig. Das hat meinen Songs eine zusätzliche Farbe gegeben. Ab den 1990er Jahren war unsere Zusammenarbeit unverzichtbar für meine Musik. Außerdem war Alfie natürlich weiterhin eine Künstlerin, die malte. Ihre Bilder sind mit den Alben entstanden und zieren etliche der Covers.


Mit Alfie Benge


Gerade ist das Buch “Side by Side“ erschienen, das die Songlyrics ihrer gesamten gemeinsamen Karriere enthält. Wie kam es dazu? Sie gingen doch 2014 in Rente.

 

RW: Der Buchverlag Faber & Faber trat mit der Idee an uns heran. Wir waren völlig überrascht. Ich schreckte zuerst davor zurück, dachte, ich hätte doch eh nur maximal 20 Songs geschrieben und Alfie ebenfalls nur ein paar wenige. Als wir dann aber die Schubladen in unserem Haus durchkramten, kamen immer mehr Liedtexte zu Tage. Erst da wurde uns allmählich bewußt, wieviel wir über die Jahre geschaffen hatten. Wir wollten unbedingt auch Bilder dabei haben. Das macht ein Buch viel interessanter. Wir haben dann die Seiten mit kleinen Kritzeleien, Cartoons, Illustrationen und Zeichnungen angereichert, die unsere Suche nach Lyrics ebenfalls zu Tage gefördert hatte. Wir legten uns mächtig ins Zeug, daraus ein schönes Buch zu machen, eine Art Retrospektive auf unser gemeinsames kreatives Leben. Alfie hat immer Tagebuch geführt, was sich als sehr nützlich erwies. Sie konnte immer wieder den Kontext zu einem bestimmten Songtext rekonstruieren, der vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren entstanden war. Es war harte Arbeit, aber ich bin froh, dass wir es durchgezogen haben. Bald darauf sind wir beide krank geworden. Vielleicht war es unsere letzte Chance ein derart großes Projekt zu stemmen. Mancher Text erinnerte mich an die dunklen Episoden meines Lebens, als ich Alkoholiker war. Das war peinlich. Ich habe erst vor ca. 15 Jahren mit dem Trinken aufgehört. Ich war lange Zeit der Überzeugung, dass ich ohne Alkohol nicht kreativ sein könnte. Der Alkohol feuerte mich an. Er erlaubte mir mehr zu wagen als in nüchternem Zustand: Freche Wortspielereien, Albernheiten, absurder Blödsinn, solche Sachen. Es ist ein kleines Wunder, dass ich bis heute nicht rückfällig geworden bin.

 

In Ihren Songs findet man kleine verdrehte Wortspiele. Wie wichtig ist Humor für Sie?

 

RW: Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich Komiker geworden. Ich mag solche witzigen Hintersinnigkeiten und Skurrilitäten. Was niemand weiß: Einer der größten Komiker war der englische Jazzsaxofonist und Jazzclubbetreiber Ronnie Scott. Er wusste es nur nicht. Doch seine Bühnenansagen waren so trocken und voll hintergründiger Ironie, das man sich krümmte vor Lachen. 



Im Buch findet sich ein Song mit dem Titel “Dada was here“. Gibt es einen Bezug zum Dadaismus?

 

RW: Eigentlich sind es die Fragen meines kleinen Sohns, Fragen eines kleinen Kinds an seinen Vater, der abwesend ist und vermißt wird. Ich war damals mit Soft Machine und der Jimi Hendrix Experience auf US-Tournee fast das ganze Jahr 1968. Das ist der Kontext. Die zweite Ebene ist natürlich Dada. Ich hatte immer ein Interesse am Absurden in der Kunst. Dada war eine wichtige Bewegung in der europäischen Kunst im 20. Jahrhundert. Die Dadaisten stießen die Tür zum Absurden auf. Ich mag ihre Wortspiele, die mit doppelten Bedeutungen arbeiten, alberne Worte erfinden oder kleine Sätze zu Absurditäten verdrehen. 

 

Sie waren immer auch ein politischer Mensch, einst Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens. In neuerer Zeit haben Sie sich für Jeremy Corbyn engagiert. Welche Erfahrung gingen damit einher?

 

RW: Meine politischen Überzeugungen haben mich recht einsam gemacht. Dass ich weiterhin für einen Austritt aus der Nato plädierte, weil ich die Nato nicht für einen Verteidigungspakt halte, sondern für eine große Gefahr, hat mich etliche Freunde gekostet. Aber ich kann nicht anders. Ich kann meine Überzeugungen nicht verleugnen. Die tägliche Wirklichkeit finden ich nur noch schwer erträglich. Ich muß mich davor schützen, abschirmen. Darum habe ich mich immer mehr in einen nostalgischen Kokon eingesponnen und beschäftige mich mit den Dingen, die ich früher – in der Welt der Vergangenheit – gemocht habe. Ich höre mir alte Jazzplatten wieder an und höre sie heute anders. Auch die Popsongs meiner Jugend, die mir lange peinlich waren, habe ich inzwischen zu schätzen gelernt. Es ist erstaunlich, was die Zeit überdauert. Gute Popsongs bleiben gute Popsongs, auch nach 70 Jahren. Ich verweigere mich der Tyrannei des Jetzt. Viele Leute halten mich für einen Rebellen. Aber das bin ich gar nicht. Ich würde gerne mit dem Mainstream übereinstimmen, doch leider teile ich dessen Überzeugungen nicht. Manche meinen, ich würde die Einsamkeit des Außenseiters suchen. Genau das Gegenteil ist der Fall.

 

Robert Wyatt & Alfie Benge: Side by Side (Faber & Faber)

Mary Halvorson's Code Girl feat. Robert Wyatt: Artless Falling (Firehouse 12 Records)


Das Interview wurde im Januar 2021 geführt und zuerst von der Zeitschrift Jazzpodium publiziert

 

 

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