Friday, 31 October 2025

SCHEIBENGERICHT Nr. 47: Keiji Haino & Reinhold Friedl

SCHEIBENGERICHT Nr. 47

Keiji Haino & Reinhold Friedl

truly, slightly, overflowing, whereabout of good will

zeitkratzer productions



Reinhold Friedl ist Leiter und Pianist des Ensembles Zeitkratzer, eine der führenden Gruppen zeitgenössischer Musik, auch in der Improvisation geübt. 2014 hat Zeitkratzer mit dem japanischen Vokalisten Keiji Haino ein Album veröffentlicht, und seither haben Friedl und Haino immer wieder zusammengearbeitet. 


Jetzt haben die beiden eine Platte vorgelegt, die in die Tiefenschichten der menschlichen Psyche führt oder auch in Urzeiten, bevor es überhaupt Sprache gab, wobei Phil Minton und Diamanda Galás grüßen lassen. Bei diesen vokalen Teufelsaustreibungen verwandelt sich Hainos Rachenraum in ein finstere Höhle, wo alle möglichen Geister und Dämonen hausen und einen schauerlichen Singsang anstimmen. Friedl hüllt die infernalischen Gesänge in dezente Klangnebel, die sich manchmal zu Texturen aus Schnarr- und Quitschgeräuschen aus dem Inneren des Flügels verdichten. 



Die erste der drei langen Improvisationen fängt mit Wimmern, Schluchzen, Krächzen und Jaulen an, bevor sich in Andeutungen der Protestsong “Strange Fruit” von Billie Holiday herauszuschälen beginnt. Das ist keine Musik, die den Fuß wippen läßt, aber trotzdem durch ihre kompromißlose Unbedingtheit den Zuhörer in den Bann zu ziehen vermag, vorausgesetzt man ist bereit, sich auf solch anschwellende Bocksgesänge einzulassen. 


Taster:

https://reinholdfriedl.bandcamp.com/album/truly-slightly-overflowing-whereabout-of-good-will


Wednesday, 29 October 2025

Gastbeitrag von Simon Steiner: Erinnerungen an MICHAEL SCHILL und die VERICHROME TULIPS

Ein Blick zurück:

Die VERICHROME TULIPS 

Indierock der 1980er Jahre aus Stuttgart


SIMON STEINER erinnert an seinen Bandleader Michael Schill

"Indie" lautete das Schlagwort – sich möglichst unabhängig geben. Eine Alternative zu den großen Plattenfirmen war das kleine Label Syndicate records, der übersichtliche Vertrieb nannte sich EFA. Das Indie-Label veröffentlichte unsere selbst produzierte LP LAC LEMAN, die von Klaus Scharf im Studio „basement“ 1987 aufgenommen wurde. Das kleine selbstgebaute Studio befand sich im Keller von Schlagzeuger Winnie Rau, in dessen Musikkaufhaus Schrill in der Tübinger Straße in Stuttgart. Das Kaufhaus Schrill war damals Mitte 80er, die Szenelocation für Musiker. Hier traf man sich um neue Instrumente und Equipment zu bestaunen, einzukaufen, aber auch nur um zu schwätzen und Neuigkeiten auszutauschen.

Unser Bandleader, Komponist, Texter und Gitarrist Michael Schill, leider früh, 2021 verstorben, kümmerte sich um alles. Er lieferte ständig neue Stücke, die wir im Proberaum fleißig übten. Die Proben verliefen nicht gerade lässig, sondern sehr zielorientiert. Schill war ehrgeizig, nachdem sich sein letztes Projekt Shot Light Blue auflöste. Unter „Indie“ stellte ich mir etwas anderes vor, lockerer, experimenteller und deshalb griff ich als ausgebildeter Saxofonist und Klarinettist auch zum Bass, etwas ausprobieren. Irene Minges setzte sparsam zärtliche Pianotupfer und sang leise, rücksichtsvoll, charmant. Winnie versuchte sich am Schlagzeug und Schills Gitarre klang meist verzerrt, schräg, sein spröder Gesang anklagend. Und tatsächlich, unsere Kassette, die Schill liebevoll gestaltete, klang „Indie“, ungeschliffen, zart, schräg, ein Hauch von Velvet Underground.


Weltschmerz, tragisches Verliebtsein schimmerten durch Schills Texte und so klang schließlich auch der Tulips-Sound: melancholisch, düster und zerbrechlich. Eine romantische Fotosession am Bärensee oder ein Bad im Tulpenmeer wählte Schill als „unsere“ Band-Motive.

Wir spielten z.B. in der Röhre in Stuttgart, groß in der Presse angekündigt als Geheimtipp und dann auch in der Stuttgarter Presse reichlich besprochen, teils gelobt, teils kritisiert, da angeblich unprofessionell, „Indie“ eben, was ja genau unser Anliegen war. Im Schwimmbad in Heidelberg mit den Briten The Pastels spielten wir erfolgreich, in der Rätschenmühle Geislingen erfuhren wir Anerkennung, wir spielten in vielen damaligen Indie-Hochburgen und auch in Balingen auf einem Festival (mit The Blech)..

Zurück zu unserer LP LAC LEMAN, unserem Tulips Album, aufklappbar mit einem bunten Gemälde Schills. Ich finde, es war sehr ernsthaft produziert, sehr geschliffen, Schill wechselte die Urbesetzung teils aus und zuletzt führten überflüssige Umbesetzungen zu einem Rock-lastigen Auftritt im legendären MAXIM am Stuttgarter Wilhelmsplatz. Wo war jetzt die sanfte Klarinette oder der süße Gesang von Irene, unser eigentlicher Indie-Sound, wenn „die Gitarre alles zermalmte“, wie in der Presse kritisiert?

Schill: Maler, Fotograf und Musiker, von Beruf Grafik Designer


Ich erinnere mich sehr gerne an Schills Verichrome Tulips-Plakat, eigenwillig im Quer-Format mit verspieltem Schriftzug, seine Gemälde, seine großen wilden Malereien. Seine Galerie in der Libanonstraße, auch ein weiterer Versuch, von kurzer Dauer. Ich erinnere mich an seine Fotoreihe „New York“, die mir sein Vater schenkte, unseren spontanen Ausflug ins Elsass, unsere Biere im Libero in der Olgastraße, später, 2008 noch mein Saxofon in seinem homestudio in der Liststraße ... und so vieles mehr. Er besuchte mich oft in meiner Wohnung in der Rosenbergstraße und wir hörten Platten oder er überreichte mir ein riesengroßes Gemälde, sagenhaft ein selbst gebauter fetter toller Rahmen, es zeigt die legendäre Tangente Bar, die sich gegenüber der Liederhalle befand.

Wir beide hatten vor, für eine Güterbahnhof-Jubiläumsfete Verichrome Tulips-Songs beizusteuern. Michael Schill war nämlich in den 90er Jahren dabei, im legendären Güterbahnhof, unserer Bahnwärterkantine hinterm Stuttgarter Bahnhof, bei unzähligen Sessions, Ausstellungen und Parties. Ach, wie wir da gemeinsam feierten und tobten, sein Humor, was haben wir gelacht.

Eine Wiedergeburt erfahren Schills Kompositionen, die er vor vielen Jahren mit Dieter Fuchs aufnahm: Dieter spielt aktuell einige Songs von damals, „foxxxmachine spielt Schill: Ein modernisierter Trip in den Stuttgarter Underground der 80er und 90er Jahre“, live als Support der Stuttgarter Postpunk Band HERZ RHYTHMUS MASCHINE.

Schills Bilder und seine Musik leben weiter und viele weitere Schätze von Micha sind bei seinen Eltern, die wir regelmäßig besuchen, in besten Händen. Und was mir nun noch einfiel, bei all der Kritik: Respekt verdient sein Talent schon, das muss man einfach sagen, ein großer Teil seiner Kompositionen sind Ohrwürmer, kleine Hits, charmante Songs, auch härtere Songs, es gelang Schill, den Tulips einen unverwechselbaren Stil zu geben. Und wir zogen eine Zeit lang alle mit.

Manche sprechen mich noch heute auf einzelne Songs an, die sie immer noch gerne hören.

Ruhe in Frieden Schill.

Monday, 20 October 2025

Buchneuerscheinung: FREAK-SOUNDS – MUSIK ABSEITS DER NORM


«Musik von der anderen Seite des Zauns», 
so hat der Rockexzentriker Captain Beefheart (bürgerlich: Don Van Vliet) die Klänge bezeichnet, die hier Freak-Sounds genannt werden: Musik abseits der Norm, ob gespielt auf dem Toypiano, dem Trautonium, der singenden Säge, dem präparierten Klavier, der Melodica, der Glasharmonika, dem Dulcitone oder auf Instrumenten, die man heute gar nicht mehr kennt. Man findet solche Töne im avantgardistischen Jazz, an den Rändern der Popmusik, in Volksmusiken außerhalb unseres Hörhorizonts, in Kompositionen der Frühen und der Neuen Musik, auch in Stilformen, die in die Ritzen zwischen den Gattungen fallen und für die wir vielleicht keinen Namen haben. Dort also, wo die musikalische Welt der Entdeckungen beginnt, werden frische Erfahrungen möglich.

Das Globe Unity Orchestra bei den Donaueschinger Musiktagen, 1967 (Foto: Jörg Becker)


Es sind Versuche, aus dem Gefängnis des Gewohnten auszubrechen und neue Horizonte zu erschließen – ein Aufbruch in andere Räume der Möglichkeiten. Dabei erweisen sich die Freak-Sounds häufig als gar nicht so verschroben, absonderlich oder verstiegen, wie man meinen könnte, sondern vielmehr als Hefe im Teig des musikalischen Mainstreams – als Salz in der Suppe. Ohne ihre Impulse wären Stillstand, Stagnation und Einförmigkeit die Folge. 

Varieté-Musiker, ca. 1910 (Sammlung C. Wagner)


Aus dem Inhalt:

Klangexperimente früher Klavierbauer / Margaret Leng Tan über John Cage und das präparierte Piano / Das Hyperpiano in der Popmusik / Das preparierte Klavier im modernen Jazz / Mahan Esfahani und das Cembalo der absoluten Präzision / Matthew Bourne und das Dulcitone / Oscar-Preisträger Volker Bertelmann über seine Filmmusiken / Das Clavinet in der Funky Music / Die Melodica von Reggae zu Pop / Das Trautonium / Die EMS-Synthesizer / Don Preston über Harry Partch, Frank Zappa und Meredith Monk / Die Laptop-Musikerin Ikue Mori / Das Toypiano wird erwachsen / Karlheinz Essl / Erik Griswold / Das Modified Toy Orchestra / Pierre Bastien und seine Klangapparate / Musik aus Glas / Die Singende Säge / Klangwanderer Julian Sartorius / Jodelgesänge im Appenzell / Das Comeback der Zither / Sam Charters über amerikanische Folkmusik / Cartoonist Robert Crumb übers Schellacksammeln und radikale Volksmusik / Sufimusiker Kudsi Erguner / Tablatrommler Zakir Hussain / Der irakisch-amerikanische Jazztrompeter Amir ElSaffar / Eric Schaefer und das japanische Nō-Theater / Visionen des Mittelalters mit dem Ensemble «Studio der Frühen Musik» / Björn Schmelzer und das Early-Music-Ensemble Graindelavoix / Catalina Vicens über historische Orgelinstrumente / Anna Webber über mikrotonales Improvisieren / The Necks / Christopher Dell und das DLW-Trio / Der «John Cage Jazz» von AMM 

Christoph Wagner: Freak-Sounds – Musik abseits der Norm. 288 Seiten,  Broschur, reich bebildert mit zahlreichen raren Fotos und seltenen historischen Abbildungen, Schott / edition neue zeitschrift für musik; 29.95 Euro

Gläserne Rockmusik – Os Barbapapas, Brazil (Promo)


Saturday, 18 October 2025

3. & 4. POPtalk & Music zur Buchveröffentlichung VON ABBA BIS ZAPPA

Rockkonzerte, die in Erinnerung bleiben

3. & 4. POPtalk & Music – Gesprächskonzerte am 15. November zur “Langen Nacht der Museen” im Böblinger Kulturnetzwerk Blaues Haus (20:30) UND im Sindelfinger Stadtmuseum Altes Rathaus (22:30)


Sindelfingen und Böblingen wurden in den 1970er Jahren zu einem Mekka der Popmusik. Viele weltberühmte Popmusiker und Rockbands traten damals in der Ausstellungshalle und danach in der Messehalle auf. In der dickleibigen und reich bebilderten Buchneuerscheinung „Von Abba bis Zappa – als Sindelfingen und Böblingen den Südwesten rockten” (Verlag Regionalkultur) zeichnet der Pophistoriker Christoph Wagner die Entwicklung nach, die Böblingen und Sindelfingen zu einem Brennpunkt der internationalen Konzertszene machte.

Ten Years After mit Bassgitarrist Leo Lyons in Böblingen 1970 (Foto: Martin Schultz)

 

                                        


Hunderttausende von Jugendlichen aus nah und fern strömten in den 1970er und 80er Jahre in die Popkonzerte in Sindelfingen und Böblingen, was die beiden Nachbarstädte für viele erst auf die Landkarte setzte. Unter diesen Musikbegeisterten waren auch etliche angehende Musiker, die mit ihren Bands daheim in den Probekellern in Reutlingen, Heilbronn oder Göppingen ihren Idolen nacheiferten, die sie „live” in Sindelfingen oder Böblingen gehört hatten.


In der Buchneuerscheinung VON ABBA BIS ZAPPA kommen einige davon zu Wort. Sie sind heute Profimusiker, wobei die damaligen Konzerterlebnisse ihre Berufswahl beeinflußt haben. Zwei von ihnen werden im Rahmen der „Langen Nacht der Museen” am Samstag, den 15. November 2025 einige denkwürdige Auftritte Revue passieren lassen und dazu die passende „Live”-Musik spielen. Zwei Auftritte in einer Nacht: um 20:30 im Böblingen Kulturnetzwerk Blaues Haus UND um 22:30 im Sindelfinger Stadtmuseum Altes Rathaus (Hintere Gasse 2). Der Eintritt ist frei.


Jazzpreisträger Ekkehard Rössle



Einer der Musiker ist der Saxofonist und Klarinettist Ekkehard Rössle aus Stuttgart. Der baden-württembergische Jazzpreisträger war als Teenager ein glühender Fan von Frank Zappa und hat den exzentrischen Gitarristen zwischen Jazz und Rock zweimal in Böblingen erlebt. Kontrabassist Fritz Heieck, bekannt durch seine Mitgliedschaft in der Frederic Rabold Crew, im Jazz Inspiration Orchestra und der Beatles Revival Band, war dagegen eher von Ten Years After begeistert, einer bekannten englischen Bluesrockband, deren Bassist Leo Lyons ihn schlichtweg „vom Hocker haute” und dem er von da an nachzueifern begann. Möglicherweise kann auch der eine oder andere Besucher dieser POPtalks die Erlebnisschilderungen mit seinen eigenen Konzerterfahrungen bereichern.


Der junge Fritz Heieck, 1975



Sunday, 12 October 2025

Die neue Gitarrengeneration im Jazz

Vielschichtige Klanglandschaft

Das Jakob Bro Trio in der Esslinger Dieselstraße

Foto: C. Wagner


In den letzten Jahren hat sich mit Julian Lage und Mary Halvorson eine neue Generation von Gitarristen ins Zentrum des aktuellen Jazzgeschehens gespielt, die sich gekonnt auf dem Seil zwischen Tradition und Innovation bewegen. Jakob Bro (Jahrgang 1978) ist ein dänischer Gitarrist, der ebenfalls zu dieser musikalischen Alterskohorte gehört.

Bro hat am renommierten Berklee College of Music in Boston studiert und sich seit zwanzig Jahren mit eigenen Einspielungen einen Namen gemacht. Jetzt war er nach 2017 das zweite Mal im Esslinger Kulturzentrum ‘Dieselstraße’ zu hören, diesmal mit einem hochkarätigen Trio, das aus Thomas Morgan am Bass und Joey Baron am Schlagzeug bestand.


Die Gruppe spielte nur ein einziges Stück, das sich über 85 Minuten erstreckte und aus einer einzigen langen Improvisation bestand mit vorgedachten Melodien, die immer wieder eingestreut wurden. Es begann besinnlich, ja fast meditativ, mit ruhigen gebrochenen Akkorden, wobei sich das Geschehen immer mehr zu einem wilden Crescendo steigerte, um am Ende wieder zu Ruhe und Kontemplation zurückzufinden. 


Dabei arbeitete Bro mit einer Vielzahl elektronischer Gerätschaften, die es ihm ermöglichten, Motive mit der Gitarre anzuspielen, um sie dann mit Hilfe eines Samplers loopartig ins Geschehen einzuspeisen und so mit der Zeit eine immer vielschichtigere Klanglandschaft entstehen zu lassen, die er anschließend wieder von seinen digitalen Maschinen elektronisch zerhackstückeln ließ.


Seine beiden Begleiter schufen einen dichten Rahmen für Bros Soundexperimente. Man hätte sich gewünscht, dass der Saitenmusiker insgesamt mehr Gitarre gespielt hätte, anstatt sich allzusehr auf das Drehen von Knöpfen und Reglern zu konzentrieren. Dennoch gelang es dem Trio über die gesamte Strecke des Auftritts, eine dichte konzentrierte Atmosphäre zu schaffen und das Publikum auf diese Weise in den Bann zu ziehen. Die Zuhörer waren begeistert und entließen die Musiker erst nach einer Zugabe in die Garderobe.