Beatles-Archäologie
Liverpool und der Merseybeat
in einer Seitenstraße im Zentrum von Liverpool (Foto: Christoph Wagner)
Liverpool vermittelt das Gefühl einer leeren Stadt. In Zeiten des Empire war die Hafenstadt am Mersey das Tor nach Amerika, ein riesiger Seehafen mit kilometerlangen Dockanlagen. Davon zeugt heute noch die eindrucksvolle Architektur. Doch verglichen mit der glorreichen Vergangenheit, ist Liverpool heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Stadtkorpus wirkt um einiges zu groß für die geschrumpfte Einwohnerzahl. Die Prachtstraße entlang der Uferpromenade, gesäumt von den Protzbauten der ehemaligen Reedereien und Handelsgesellschaften, ist nur mäßig befahren und wenn man in der Innenstadt nur fünfzig Meter von der Haupteinkaufsmeile (Bold Street) abbiegt, geht man durch leeren Gassen.
Allein die Geschichte verströmt noch etwas Glanz. Vor allem in der Mathew Street tummeln sich die Touristen. Das verwinkelte Sträßchen gilt als Wiege der Popmusik. Eine Metallstatue markiert den heiligen Ort, die John Lennon in Lebensgröße zeigt. Lässig steht er da in Halbstarken-Pose an eine Hauswand gelehnt mit spitzen Cowboystiefeln, Röhrenjeans, Pullover und offener Lederjacke, dazu der typischen Pilzkopf-Frisur. Gelangweilt hat er die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Die Lennon-Statue ist hier nicht zufällig postiert. Schräg gegenüber befand sich einst der Eingang des legendären Cavern-Club, dem Ort, wo Anfang der 60er Jahre die Karriere der Beatles begann und der seither als Ausgangspunkt der Popmusik nicht nur in Liverpool und England, sondern in ganz Europa gilt, sprich: Heilige Erde!
Der Cavern-Club existiert schon lange nicht mehr. Er wurde vor Jahren abgerissen und durch einen modernen Funktionsbau ersetzt. Ein paar Meter weiter hat ein Dublikat seither die Pforten geöffnet. Eine Sanierungs-Sünde, die man in Liverpool seit langem bereut. Nur ein Hinweistafel erinnert noch an die einst glorreichen Zeiten.
Damals, zu Beginn der 1960er Jahre, herrschte in den engen Gassen der Altstadt jeden Abend Hochbetrieb. Ein neuer, schriller, ohrenbetäubender Sound sorgte für Hysterie. Hunderte von jungen Leuten strömten zu Auftritten der Beatles, von Gerry & The Pacemakers oder der Fourmost, die entweder gleich um die Ecke im Iron Door in der Temple Street auftraten oder hier im Cavern. Brav wurde vor dem Eingang Schlage gestanden, bis man eingelassen wurde und dann zwei Treppen in das riesige Kellergewölbe hinunterstieg, das an die 500 Besucher fasste.
Der Cavern Club war ein feuchtes Loch, das im 2. Weltkrieg als Luftschutzkeller gedient hatte. Er war schlecht beleuchtet, stickig und modrig. Frischluftzufuhr gab es kaum. Wenn der Laden voll war, tropfte das Kondenzwasser von den Wänden. Die jungen Leute kümmerte das wenig. Auf sie übte der Club eine magische Anziehungskraft aus, weil hier die heißesten Bands
spielten.
John-Lennon-Statue schräg gegenüber vom ehemaligen Cavern-Club. (Foto: Christoph Wagner)
Ursprünglich war der Cavern 1957 als Jazzclub entstanden, doch änderte er mit der Zeit sein Konzept, um die neuen musikalischen Strömungen zu präsentieren. Das war kommerziell einträglicher. Zuerst wurde ein Abend für Skiffle eingerichtet, dann tauchten ab 1961 die erste Beatbands auf, die bald das Programm dominierten, weil der Publikumsansturm so gewaltig war.
Die Beatbands gingen aus einer lebendigen Musikszene hervor, die in Liverpool eine lange Tradition hat. Wahrscheinlich war der Einfluss der irischen Einwohner dafür verantwortlich, dass in fast jeder Kneipe Musik gemacht wurde, gehört in Irland das gemeinschaftliche Musikmachen und Liedersingen im Pub doch zur Alltagskultur. In Liverpool war der Anteil der Iren hoch. Sie waren Nachfahren von Auswanderern, die auf dem Weg nach Amerika in der nordenglischen Hafenstadt zu Tausenden hängengeblieben waren. Irland, unter englischer Besatzung, hatte im 19. Jahrhundert keinen eigenen Überseehafen.
Bei den Musikveranstaltungen ging es hoch her, oft kam es zu Schlägereien. “Da die Pubs um 10 Uhr dichtmachten, tranken die Leute dort so viel Bier wie möglich, bevor sie in die Tanzclubs weiterzogen,“ erzählt Billy Butler, ein Veteran der Liverpooler Szene. “Wenn ein paar Hundert Leute tanzten, und man aus Versehen jemanden anrempelte, der aber meinte, dass es Absicht war – ging es schon los. Wenn man mit jemanden einen Streit hatte, ging man danach besser nicht mehr alleine auf die Toilette, weil er einem vielleicht mit seinen Freunden folgte. Man kannte die Banden und wußte aus welchem Stadtteil sie waren. Man wußte, wem man aus dem Weg gehen mußte, wer der Anführer war. Das lernte man, indem man jede Woche ausging. Manchmal gab es Ärger nachts auf dem Heimweg. Vielleicht war da eine Bande auf der anderen Straßenseite, die herüber schrien. Man brüllte zurück. Dann kam es zum Tumult. Wenn sie in der Überzahl waren, rannten man besser so schnell man konnte. Wenn man ein guter Läufer war, konnte man entwischen.”
1961 fing Billy Butler an, im Cavern-Club als Discjockey zu arbeiten. Fünf bis sechs Tage in der Woche legte er in der Mittagspause und abends zwischen den Auftritten der Bands aktuelle Scheiben auf. Butler war ein Teil der Szene und kannte sie alle: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Richard Starkey alias Ringo Starr, auch Pete Best und Stuart Sutcliffe, die ehemaligen Beatles, und noch viele mehr, denn die Beatles waren damals bei weitem nicht die einzige Band in Liverpool – im Gegenteil: Sie waren eine unter vielen. Vielleicht sogar nicht einmal die beste. Die Popszene in Liverpool vibrierte, und es wimmelt geradezu vor Beatgruppen.
“Es gab damals Hunderte von Gruppen,” erzählt Butler, der selbst zuerst bei den Merseybeats, dann bei den Tuxedos spielte. “Um die Beschäftigung stand es damals nicht schlecht in Liverpool. Aber wenn man ein bisschen Geld nebenher verdienen wollte, konnte man entweder Fussball spielen, boxen oder Entertainer werden. Als ich dieTuxedos gründete, verdiente ich mit meinem normalen Job 2.50 Pfund die Woche. Für einen Auftritt bekamen wir 6 Pfund, was bei vier Musikern 1.50 Pfund pro Mann macht. Das war schon fast ein Wochenlohn. Hatte man zwei Auftritte in der Woche, konnte man damit sein Einkommen verdoppeln. Es war also eine gute Möglichkeit Geld zu verdienen, was für junge Leute Grund genug war, in eine Band einzusteigen. Und natürlich hatte man als Bandmitglied auch bei den Mädchen größere Chancen.”
The Merseybeats traten über 100 Mal im Cavern Club in Liverpool auf, hier am Pier in Liverpool vor dem Liver-Building, ein Wahrzeichen der Hafenstadt. (Foto: Peter Kaye)
Da Liverpool an der Mündung des Mersey liegt, wurde der neue Stil Merseybeat genannt. Bands wie The Merseybeats, Rory Strom & The Hurricans, The Clayton Squares, The Fourmost, Billy J Kramer & The Dakotas, The Remo Four, The Black Knights und die Kubas prägten ihn. Die meisten Bands brachten es jedoch zu keiner Platteneinspielung und sind darum heute längst vergessen.
Schaut man sich die Plattencovers genauer an, fällt auf, dass viele Formationen aus drei singenden Gitarristen und einem Schlagzeuger bestanden, der Standardbesetzung einer Beatband, wie sie sich damals herausschälte. Die Beatles traten auch mit dieser Instrumentierung auf.
Wie ganz England stand Liverpool Ende der 1950er Jahre im Zeichen des Skiffle. Skiffle-Bands mixten Jazz, Folk und Blues zu einer rustikalen Schrammelmusik, die mit Waschbrett, Wandergitarre und Kamm gespielt wurde. Aus den Kisten, in denen der Tee aus Indien und Ceylon in den Docks ankam, wurden mit einem Besenstil und Draht ein Zupfbass gebastelt. Zu Dutzenden gab es solche Sperrmüll-Gruppen in der Stadt. Selbst die Beatles waren ursprünglich aus einer Skiffleband namens The Quarry Men hervorgegangen. Skiffle war die ideale Musik für Jugendliche mit wenig Geld und geringen musikalischen Kenntnissen.
Nach Skiffle machte ein neuer Sound Furore. Als zuerst Gerry & The Pacemakers und dann die Beatles die Hitparaden stürmten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. In den Zeitungen waren Bilder von kreischenden Teenagern zu sehen. Von “Beatlemania” oder “Merseymania” war die Rede. Der Merseybeat avancierte zu einem nationalen Phänomen. Liverpool zum Gütesiegel.
“Leute riefen mich aus ganz England an, um eine Gruppe aus Liverpool zu buchen,” erzählt Manager Joe Flannery. “Manchmal stellten wir einfach eine Ad-Hoc-Band zusammen, die erst im Bus auf dem Weg nach Südengland eine Show einstudierte. Den Clubbesitzern im Süden war das egal, solange sie auf das Plakat ‘Direct from Liverpool’ schreiben konnten. Damit waren sie zufrieden, weil es einen vollen Saal garantierte.”
Trittbrettfahrer versuchten auf den Erfolgszug aufzuspringen. Beatles-Imitatoren schossen wie Pilze aus dem Boden. Gruppen schrieben einfach den Zusatz “Mersey” auf ihre Platten oder Plakate und der Erfolg war garantiert. Andere änderten ihren Bandnamen, nahmen ein paar Beatles-Hits ins Programm und nannten sich jetzt “The Merseyboys” oder “The Merseysound”, obwohl sie eigentlich aus Birmingham kamen und ursprünglich unter dem Namen The Runaways firmiert hatten. Alles wurde unternommen, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen.
Nach den grauen Jahren der Nachkriegszeit, als der Wiederaufbau mit Lebensmittelrationierungen, Armut und Entbehrungen den Alltag bestimmte, hatte man in England Anfang der 1960er Jahre endlich das Gefühl, dass es aufwärts ging. Die Löhne stiegen und Politiker verkündeten, dass “der Wohlstand noch nie so groß war”. Waschmaschinen und Fernsehgeräte wurden zu Symbolen des Aufschwungs.
Junge Leute hatte zum ersten Mal übriges Geld, das für Konsumgüter und Freizeitvergnügen ausgegeben werden konnte. Sie kauften sich tragbare “Dancette”-Plattenspieler, was den Schallplattenverkauf noch oben schnellen ließ. Waren 1955 9 Millionen Langspielplatten verkauft worden, waren es 1960 schon fast doppelt so viele. Die neue Beatmusik gab dem optimistischeren Lebensgefühl der Jugend Ausdruck.
Selbst zur Mittagszeit von 12 bis 14 Uhr trat man sich im Cavern-Club auf die Zehen. “Es gab die Lunchtime-Sessions, wo normalerweise zwei Liverpooler Gruppen spielten, oder eine lokale Band und eine berühmtere Gruppe von auswärts, die abends nocheinmal auftrat,” erzählt Billy Butler. “Es war immer genagelt voll. Es kostete kaum Eintritt und wir verkauften Suppe, Kaffee, Hotdogs und Sandwiches, und man konnte den Gruppe zuhören.”
Bob Wooler, der Betreiber des Cavern Club, mit dem amerikanischen Bluesharmonikaspieler Sonny Boy Williamson, backstage im Cavern (Foto: Peter Kaye)
In den musikalischen Vorlieben unterschied sich Liverpool nicht wesentlich von anderen englischen Großstädten. Höchstens wurden hier die Akzente etwas anders gesetzt. Das hatte mit der Vergangenheit zu tun: Als Hafenstadt war Liverpool immer ein Fenster zur Welt gewesen und nach London die kosmopolitischste Stadt des Vereinigten Königreichs. Vor allem nach Amerika bestanden enge Verbindungen. Liverpool galt als die amerikanischste Stadt Großbritanniens. Kein Wunder, dass die neusten Trends von Übersee hier früher ankamen und schneller aufgegriffen wurden als im übrigen England. Amerikanische Einflüsse wie Soul, Blues, Country und Gospel waren im Sound der Liverpooler Bands stärker präsent.
Als Trendsetter konnte sich Liverpool nicht lange behaupten. Bald war der Hype vorbei. Hatte der Merseybeat 1963 und 64 noch die Hitparaden beherrscht, ging die Erfolgsstory jetzt rapide zu Ende. Der Knock-out kam als die Beatles nach London zogen und das Medieninteresse und den Starrummel mitnahmen. Schlagartig rutschte Liverpool in die Normalität zurück. Knappe zwei Jahre war man Welthauptstadt des Pop gewesen, jetzt kehrte der Alltag wieder ein. Und der war grau!
Denn ökonomisch ging es kontinuierlich bergab. Liverpool, einst einer der größten Seehäfen der Welt (1912 ging 15 % des gesamten Weltseehandels durch die Stadt), verlor vollständig an Bedeutung. Die Stadt wurde zum Problemfall, Arbeitslosigkeit, soziale Verwerfungen und Slums chronisch. In den 1980er Jahren kam es zu “Riots”. Mit Geld versuchte die Zentralregierungen in London die Wut zu befrieden. Das Albert Dock wurde zu einem Museums-, Shopping- und Café-Komplex umgebaut, der heute ein Touristenmagnet ist. Vor allem das Beatles-Museum, das Museum of Liverpool und die Kunstgalerie “Tate North” zieht Massen von Besuchern an. Doch nur ganz allmählich verbesserte sich die Situation.
Inzwischen signalisieren chromgläserne Capuccino-Bars, dass es aufwärts geht. Und 2008 war Liverpool Kulturhauptstadt Europas. Seither hat sich viel verändert, viele moderne Bauten, Kaufhäuser und Shops sind in der Innenstadt entstanden, jedes angesagte Label ist hier präsent, doch kaum weicht man von den Hauptadern des Kommerzes ab, steht man wieder im alten Liverpool, wo die Häuser vor sich hinrotten und sich in den Hinterhöfen der Müll häuft.