Tuesday 5 November 2024

Émile Parisien zum sechsten Mal in Singen

Im Gegensatz vereint

 

Das Émile Parisien Quartet begeistert vor vollem Haus beim Jazzclub Singen

 

Fotos: C. Wagner



 

Der Sopransaxofonist Émile Parisien ist einer der nicht gerade zahlreichen französischen Jazzmusiker, die auch in Deutschland über ein beachtliches Renommee verfügen. Nach ein paar Veröffentlichungen bei kleineren französischen Plattenfirmen, erschien 2014 sein Debutalbum auf dem renommierten deutschen Jazzlabel Act, das er mit dem Akkordeonisten Vincent Peirani eingespielt hatte und ihn schlagartig zu einem Star auf der deutschen Jazzszene machte. Seitdem hat er durch die Zusammenarbeit mit bekannten Namen wie Joachim Kühn und Michael Wollny seinen Ruf noch steigern können, gekrönt durch den ECHO-Jazzpreis und den Preis der deutschen Schallplattenkritik, den er 2019 erhielt.

 

Nach fünf Auftritten in den letzten Jahren, das letzte fand vor genau zwei Jahren mit einer All-Star-Besetzung statt, war jetzt Parisien erneut beim Jazzclub Singen im Kulturzentrum Gems zu Gast. Dieses Mal kam er mit seinem französischen Quartett, das in den letzten zwei Jahrzehnten maßgeblich zu seinem kometenhaften Aufstieg beigetragen hat. Das Ensemble steht für einen modernen Jazz, der mitreißt und auf überzeugende Weise Elemente aus verschiedenen musikalischen Gattungen, ob Rock, Latin oder avantgardistische E-Musik, zu einem ausdrucksstarken Stil verbindet. Ob Groove oder Swing, ob freies Spiel oder ausgetüftelte Kompositionen, ob impressionistische Träumereien oder aufbrausendes Power-Play – alles sieht sich in Parisiens Musik vereint.




 

Sehr dezent und auf leisen Sohlen hat mittlerweile die Elektronik Einzug gehalten. War Parisiens Jazzmusik zu Beginn seiner Karriere noch rein akustisch gehalten, kommen jetzt gelegentlich synthetische Klangfarben ins Spiel. Der Bandleader hat neben sich auf der Bühne ein kleines Tischchen aufgebaut, übersät mit Knöpfen und Reglern, mit denen er sein Sopransaxofon zu einem riesigen Saxofonchor aufblasen oder einen enormen Nachhall erzeugen kann. 

 

Der zweite Elektroniker in der Band ist Schlagzeuger Julien Loutelier, der gleichfalls neben seinem exzellenten Trommelspiel ein kleines Mischpult bedient, auf dem er vorgefertigte elektronische Rhythmen abrufen kann. „Tiktik“ hieß eine der originellsten Kompositionen des Abends, deren Rückgrat ein konstantes Klickgeräusch bildete, um das die Musiker ein hochkomplexes Arrangement flochten mit überraschenden Wendungen und Pausen, die nicht ohne Witz und Humor waren. Das Publikum geriet angesichts einer solch exzellenten Jazzmusik richtiggehend aus dem Häuschen, so daß Parisien und seine Mannen erst nach einer längeren Zugabe von der Bühne gelassen wurden. 

Monday 4 November 2024

Baba Zula mit neuem Album

Baba Zula – Straßen von Istanbul

Foto: C. Wagner


Baba Zula sind eine Rockband aus Istanbul, die einen Brücke schlägt zwischen den Klängen vom Bosperus und psychedelischen Sounds. Über einem so dichten wie steten Rhythmusgeflecht aus Drums, türkischen Handtrommeln und treibendem Baßspiel, legen die türkischen Rockmusiker weitausholende Solos auf der Saz, einer Langhalslaute, deren Töne durch allerlei Verzerrer und Wah-Wahs gejagt werden. 

 Die Titel auf dem neuen Album sind oftmals als Collagen konzipiert, wobei die Blende als wichtiges Stilmittel fungiert. Wir hören Stimmen wispern, historische Feldaufnahmen vom Hafen, Mövengeschrei und die Wellen ans Ufer schlagen, während die Saz oder eine verzerrte E-Gitarre über einem hypnotischen Beat ihre Improvisationen legen.


 

Obwohl die Musiker von Baba Zula um einiges älter sind – Bandleader Murat Ertel ist Jahrgang 1964 – spielt die Band doch eine Musik, wie sie wohl nur aus den Teilen der türkischen Jugendkultur kommen kann, die – westlich orientiert – vor mehr als zehn Jahren wegen der drohenden Vernichtung des Gezi-Parks in Istanbul eine massive Protestwelle startete, die vom Erdogan-Regime brutal unterdrückt wurde. In der Musik von Baba Zula brodelt der Geist der Revolte. 


Baba Zula: Istanbul Sokaklari (Glitterbeat Records)


You tube video:


https://www.youtube.com/watch?v=w6THsB95Nrc




Mehr zum Thema:

Sunday 6 October 2024

Sufi-Musik auf der Flöte Ney

Wiederbegegnung mit Kudsi Erguner

Um 1990 hatten wir beim Balinger Kulturverein in unserer Konzertreihe "Musik der Fremde" zweimal Ensembles von Kudsi Erguner zu Gast, einem Spezialisten der islamischen Sufi-Musik und Meister der Flöte Ney. Das eine Ensemble war eine achtköpfige Formation mit Kudsi Erguners Bruder, der ebenfalls Ney-Flöte spielte, und türkischen Musikern mit Oud, Kanun, Trommeln und einer Sängerin. 

Kudsi Erguner mit seinem Ensemble in der Balinger Stadthalle, 1990 (Foto: C. Wagner)




Das zweite Konzert, das ein Jahr später stattfand, bestritt Erguner mit einem Quartett bestehend aus drei seiner französischen Schülern. Beides Mal war es ein absolutes Konzert-Highlight und wurde damals vom SWR2 mitgeschnitten und übertragen. Nach wohl fast 40 Jahren habe ich jetzt Kudsi Erguner für ein Interview in Paris wiedergetroffen, wobei er mir sein aktuelles Album mitgegeben hat, das "Fragmente der Sufi-Zeremonien" enthält – wunderbare sakrale Musik aus dem Orient, wie sie bei den Tanzritualen der Sufi-Gläubigen gespielt wird, die im Westen als tanzende Derwische bekannt sind. 



 

Monday 30 September 2024

Rock 'n' Roll Café, Texas 1969

Die Arhoolie Foundation hat begonnen, Fotos und Dokumente des legendären Plattenlabel-Betreibers, Musikforschers und Fotografen Chris Strachwitz (1931 – 2023) zu veröffentlichen, darunter ein fantastisches Foto von Aline Dillard's Rock and Roll Café, aufgenommen von Strachwitz in Texas, 1969.

Hier der Internet-Zugangs zu diesem interessanten Quellenmaterial, das Strachwitz im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat – eine Fundgrube für Roots-Music aus den USA:

https://digitalcollections.arhoolie.org/collections/chris-strachwitz-collection


Mehr zu Chris Strachwitz und Arhoolie Records:

https://christophwagnermusic.blogspot.com/2012/10/labelportrait-arhoolie-roots-music.html

Friday 20 September 2024

Fabian Dudek in Singen

Jazzmusiker als Slalomläufer

Das Fabian Dudek Sextett beim Jazzclub Singen in der Gems


                                            Foto: Christoph Wagner

  

Neben Berlin gilt die Kölner Jazzszene zur Zeit als die interessanteste in Deutschland. In der Domstadt tummeln sich etliche hochkarätige Jazzmusiker, die mehr und mehr ins Rampenlicht drängen. Da schießt gerade eine junge Generation aus den Startlöchern, von denen Fabian Dudek einer der Talentiertesten ist. 

 

Der Altsaxofonist, Jahrgang 1995, begreift sich nicht ausschließlich als Instrumentalist und Bandleader, sondern vor allem als Komponist, der ambitioniert neue Wege geht. Mit seinem Sextett stellte er in der Besetzung mit Flöte, Altsaxofon, Trompete, Piano, Baß und Schlagzeug in Singen sein aktuelles Doppelalbum vor (Titel: Protecting A Picture, That’s Fading), das sich wie das Konzert in zwei Hälften teilt, mit einer kurzen Unterbrechung (zum Wechseln der beiden CDs) in der Mitte.  

 

Dudek entwirft Kompositionen im Großformat, die einem vertrakten Slalomlauf gleichen, unerwartete Haken schlagen, manchmal mächtig beschleunigen, um dann abrupt abzubremsen. Was die Klanglichkeit betrifft, bevorzugt der Kölner rauhe und schroffe Sounds genauso wie schrille Töne. Wenn er gelegentlich die Piccolo-Flöte von Pauline Turrillo und die hohen Tastenanschläge des Pianos von Felix Hauptmann in kurzen Staccati vereint, wirken solche Töne wie Nadelstiche, die durch Mark und Bein gehen.

 

Dudek baut Fallgruben, Geheimtüren und doppelte Böden in seine Stücke ein, deren Arrangements oft ganz andere Wege gehen, als erwartet. Die Melodien, unterlegt von diffizilen Rhythmen, sind voller Widerhaken, wobei manchmal neben dem Schlagzeug auch Klangstäbe und Metallperkussion Akzente setzen. 

 

Alle sechs Musiker sind versierte Könner auf ihren Instrumenten, die sie mit einer Virtuosität beherrschen, die einen bei solch jungen Musikern doch Staunen läßt. Darüberhinaus kennen sie die Jazzgeschichte in- und auswendig, sind mit den Konzepten der Jazz-Moderne ebenso vertraut wie mit den Techniken der E-Musik-Avantgarde. In seinem Saxofonspiel zieht Dudek immer wieder vor seinen Heroen den Hut, den Jazzgiganten Ornette Coleman, Albert Ayler und Anthony Braxton. 

 

Möglicherweise zielt der Komponist mit seinen Mega-Kompositionen zu hoch. Motive, Atmosphären und Stimmungen sehen sich selten zur Genüge erkundet, vielmehr springt die Musik wie bei einem Slalomlauf in atemloser Manier von einer Idee zur nächsten. Mehr Ruhe hätte ihr gut getan.

Saturday 14 September 2024

Das Erbe des Merseybeat

Beatles-Archäologie

Liverpool und der Merseybeat


in einer Seitenstraße im Zentrum von Liverpool (Foto: Christoph Wagner)

Liverpool vermittelt das Gefühl einer leeren Stadt. In Zeiten des Empire war die Hafenstadt am Mersey das Tor nach Amerika, ein riesiger Seehafen mit kilometerlangen Dockanlagen. Davon zeugt heute noch die eindrucksvolle Architektur. Doch verglichen mit der glorreichen Vergangenheit, ist Liverpool heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Stadtkorpus wirkt um einiges zu groß für die geschrumpfte Einwohnerzahl. Die Prachtstraße entlang der Uferpromenade, gesäumt von den Protzbauten der ehemaligen Reedereien und Handelsgesellschaften, ist nur mäßig befahren und wenn man in der Innenstadt nur fünfzig Meter von der Haupteinkaufsmeile (Bold Street) abbiegt, geht man durch leeren Gassen. 


Allein die Geschichte verströmt noch etwas Glanz. Vor allem in der Mathew Street tummeln sich die Touristen. Das verwinkelte Sträßchen gilt als Wiege der Popmusik. Eine Metallstatue markiert den heiligen Ort, die John Lennon in Lebensgröße zeigt. Lässig steht er da in Halbstarken-Pose an eine Hauswand gelehnt mit spitzen Cowboystiefeln, Röhrenjeans, Pullover und  offener Lederjacke, dazu der typischen Pilzkopf-Frisur. Gelangweilt hat er die Hände in den Hosentaschen vergraben. 


Die Lennon-Statue ist hier nicht zufällig postiert. Schräg gegenüber befand sich einst der Eingang des legendären Cavern-Club, dem Ort, wo Anfang der 60er Jahre die Karriere der Beatles begann und der seither als Ausgangspunkt der Popmusik nicht nur in Liverpool und England, sondern in ganz Europa gilt, sprich: Heilige Erde! 


Der Cavern-Club existiert schon lange nicht mehr. Er wurde vor Jahren abgerissen und durch einen modernen Funktionsbau ersetzt. Ein paar Meter weiter hat ein Dublikat seither die Pforten geöffnet. Eine Sanierungs-Sünde, die man  in Liverpool seit langem bereut. Nur ein Hinweistafel erinnert noch an die einst glorreichen Zeiten. 


Damals, zu Beginn der 1960er Jahre, herrschte in den engen Gassen der Altstadt jeden Abend Hochbetrieb. Ein neuer, schriller, ohrenbetäubender Sound sorgte für Hysterie. Hunderte von jungen Leuten strömten zu Auftritten der Beatles, von Gerry & The Pacemakers oder der Fourmost, die entweder gleich um die Ecke im Iron Door in der Temple Street auftraten oder hier im Cavern. Brav wurde vor dem Eingang Schlage gestanden, bis man eingelassen wurde und dann zwei Treppen in das riesige Kellergewölbe hinunterstieg, das an die 500 Besucher fasste.


Der Cavern Club war ein feuchtes Loch, das im 2. Weltkrieg als Luftschutzkeller gedient hatte. Er war schlecht beleuchtet, stickig und modrig. Frischluftzufuhr gab es kaum. Wenn der Laden voll war, tropfte das Kondenzwasser von den Wänden. Die jungen Leute kümmerte das wenig. Auf sie übte der Club eine magische Anziehungskraft aus, weil hier die heißesten Bands 

spielten.


John-Lennon-Statue schräg gegenüber vom ehemaligen Cavern-Club. (Foto: Christoph Wagner)

 


Ursprünglich war der Cavern 1957 als Jazzclub entstanden, doch änderte er mit der Zeit sein Konzept, um die neuen musikalischen Strömungen zu präsentieren. Das war kommerziell einträglicher. Zuerst wurde ein Abend für Skiffle eingerichtet, dann tauchten ab 1961 die erste Beatbands auf, die bald das Programm dominierten, weil der Publikumsansturm so gewaltig war. 


Die Beatbands gingen aus einer lebendigen Musikszene hervor, die in Liverpool eine lange Tradition hat. Wahrscheinlich war der Einfluss der  irischen Einwohner dafür verantwortlich, dass in fast jeder Kneipe Musik gemacht wurde, gehört in Irland das gemeinschaftliche Musikmachen und Liedersingen im Pub doch zur Alltagskultur. In Liverpool war der Anteil der Iren hoch. Sie waren Nachfahren von  Auswanderern, die auf dem Weg nach Amerika in der nordenglischen Hafenstadt zu Tausenden hängengeblieben waren. Irland, unter englischer Besatzung, hatte im 19. Jahrhundert keinen eigenen Überseehafen. 


Bei den Musikveranstaltungen ging es hoch her, oft kam es zu Schlägereien. “Da die Pubs um 10 Uhr dichtmachten, tranken die Leute dort so viel Bier wie möglich, bevor sie in die Tanzclubs weiterzogen,“ erzählt Billy Butler, ein Veteran der Liverpooler Szene. “Wenn ein paar Hundert Leute tanzten, und man aus Versehen jemanden anrempelte, der aber meinte, dass es Absicht war – ging es schon los. Wenn man mit jemanden einen Streit hatte, ging man danach besser nicht mehr alleine auf die Toilette, weil er einem vielleicht mit seinen Freunden folgte. Man kannte die Banden und wußte aus welchem Stadtteil sie waren. Man wußte, wem man aus dem Weg gehen mußte, wer der Anführer war. Das lernte man, indem man jede Woche ausging. Manchmal gab es Ärger nachts auf dem Heimweg. Vielleicht war da eine Bande auf der anderen Straßenseite, die herüber schrien. Man brüllte zurück. Dann kam es zum Tumult. Wenn sie in der Überzahl waren, rannten man besser so schnell man konnte. Wenn man ein guter Läufer war, konnte man entwischen.” 


1961 fing Billy Butler an, im Cavern-Club als Discjockey zu arbeiten. Fünf bis sechs Tage in der Woche legte er in der Mittagspause und abends zwischen den Auftritten der Bands aktuelle Scheiben auf. Butler war ein Teil der Szene und kannte sie alle: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Richard Starkey alias Ringo Starr, auch Pete Best und Stuart Sutcliffe, die ehemaligen Beatles, und noch viele mehr, denn die Beatles waren damals bei weitem nicht die einzige Band in Liverpool – im Gegenteil: Sie waren eine unter vielen. Vielleicht sogar nicht einmal die beste. Die Popszene in Liverpool vibrierte, und es wimmelt geradezu vor Beatgruppen. 


“Es gab damals Hunderte von Gruppen,” erzählt Butler, der selbst zuerst bei den Merseybeats, dann bei den Tuxedos spielte. “Um die Beschäftigung stand es damals nicht schlecht in Liverpool. Aber wenn man ein bisschen Geld nebenher verdienen wollte, konnte man entweder Fussball spielen, boxen oder Entertainer werden. Als ich dieTuxedos gründete, verdiente ich mit meinem normalen Job 2.50 Pfund die Woche. Für einen Auftritt bekamen wir 6 Pfund, was bei vier Musikern 1.50 Pfund pro Mann macht. Das war schon fast ein Wochenlohn. Hatte man zwei Auftritte in der Woche, konnte man damit sein Einkommen verdoppeln. Es war also eine gute Möglichkeit Geld zu verdienen, was für junge Leute Grund genug war, in eine Band einzusteigen. Und natürlich hatte man als Bandmitglied auch bei den Mädchen größere Chancen.”


The Merseybeats traten über 100 Mal im Cavern Club in Liverpool auf, hier am Pier in Liverpool vor dem Liver-Building, ein Wahrzeichen der Hafenstadt. (Foto: Peter Kaye)




Da Liverpool an der Mündung des Mersey liegt, wurde der neue Stil Merseybeat genannt. Bands wie The Merseybeats, Rory Strom & The Hurricans, The Clayton Squares, The Fourmost, Billy J Kramer & The Dakotas, The Remo Four, The Black Knights und die Kubas prägten ihn. Die meisten Bands brachten es jedoch zu keiner Platteneinspielung und sind darum heute längst vergessen. 


Schaut man sich die Plattencovers genauer an, fällt auf, dass viele Formationen aus drei singenden Gitarristen und einem Schlagzeuger bestanden, der Standardbesetzung einer Beatband, wie sie sich damals herausschälte. Die Beatles traten auch mit dieser Instrumentierung auf. 


Wie ganz England stand Liverpool Ende der 1950er Jahre im Zeichen des Skiffle. Skiffle-Bands mixten Jazz, Folk und Blues zu einer rustikalen Schrammelmusik, die mit Waschbrett, Wandergitarre und Kamm gespielt wurde. Aus den Kisten, in denen der Tee aus Indien und Ceylon in den Docks ankam, wurden mit einem Besenstil und Draht ein Zupfbass gebastelt. Zu Dutzenden gab es solche Sperrmüll-Gruppen in der Stadt. Selbst die Beatles waren ursprünglich aus einer Skiffleband namens The Quarry Men hervorgegangen. Skiffle war die ideale Musik für Jugendliche mit wenig Geld und geringen musikalischen Kenntnissen.


Nach Skiffle machte ein neuer Sound Furore. Als zuerst Gerry & The Pacemakers und dann die Beatles die Hitparaden stürmten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. In den Zeitungen waren Bilder von kreischenden Teenagern zu sehen. Von “Beatlemania”  oder “Merseymania” war die Rede. Der Merseybeat avancierte zu einem nationalen Phänomen. Liverpool zum Gütesiegel. 


“Leute riefen mich aus ganz England an, um eine Gruppe aus Liverpool zu buchen,” erzählt Manager Joe Flannery. “Manchmal stellten wir einfach eine Ad-Hoc-Band zusammen, die erst im Bus auf dem Weg nach Südengland eine Show einstudierte. Den Clubbesitzern im Süden war das egal, solange sie auf das Plakat ‘Direct from Liverpool’ schreiben konnten. Damit waren sie zufrieden, weil es einen vollen Saal garantierte.”


Trittbrettfahrer versuchten auf den Erfolgszug aufzuspringen. Beatles-Imitatoren schossen wie Pilze aus dem Boden. Gruppen schrieben einfach den Zusatz “Mersey” auf ihre Platten oder Plakate und der Erfolg war garantiert. Andere änderten ihren Bandnamen, nahmen ein paar Beatles-Hits ins Programm und nannten sich jetzt “The Merseyboys” oder “The Merseysound”, obwohl sie eigentlich aus Birmingham kamen und ursprünglich unter dem Namen The Runaways firmiert hatten. Alles wurde unternommen, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen.


Nach den grauen Jahren der Nachkriegszeit, als der Wiederaufbau mit Lebensmittelrationierungen, Armut und Entbehrungen den Alltag bestimmte, hatte man in England Anfang der 1960er Jahre endlich das Gefühl, dass es aufwärts ging. Die Löhne stiegen und Politiker verkündeten, dass “der Wohlstand noch nie so groß war”. Waschmaschinen und Fernsehgeräte wurden zu Symbolen des Aufschwungs. 


Junge Leute hatte zum ersten Mal übriges Geld, das für Konsumgüter und Freizeitvergnügen ausgegeben werden konnte. Sie kauften sich tragbare “Dancette”-Plattenspieler, was den Schallplattenverkauf noch oben schnellen ließ. Waren 1955 9 Millionen Langspielplatten verkauft worden, waren es 1960 schon fast doppelt so viele. Die neue Beatmusik gab dem optimistischeren Lebensgefühl der Jugend Ausdruck. 


Selbst zur Mittagszeit von 12 bis 14 Uhr trat man sich im Cavern-Club auf die Zehen. “Es gab die Lunchtime-Sessions, wo normalerweise zwei Liverpooler Gruppen spielten, oder eine lokale Band und eine berühmtere Gruppe von auswärts, die abends nocheinmal auftrat,” erzählt Billy Butler. “Es war immer genagelt voll. Es kostete kaum Eintritt und wir verkauften Suppe, Kaffee, Hotdogs und Sandwiches, und man konnte den Gruppe zuhören.”


Bob Wooler, der Betreiber des Cavern Club, mit dem amerikanischen Bluesharmonikaspieler Sonny Boy Williamson, backstage im Cavern (Foto: Peter Kaye)





In den musikalischen Vorlieben unterschied sich Liverpool nicht wesentlich von anderen englischen Großstädten. Höchstens wurden hier die Akzente etwas anders gesetzt. Das hatte mit der Vergangenheit zu tun: Als Hafenstadt war Liverpool immer ein Fenster zur Welt gewesen und nach London die kosmopolitischste Stadt des Vereinigten Königreichs. Vor allem nach Amerika bestanden enge Verbindungen. Liverpool galt als die amerikanischste Stadt Großbritanniens. Kein Wunder, dass die neusten Trends von Übersee hier früher ankamen und schneller aufgegriffen wurden als im übrigen England. Amerikanische Einflüsse wie Soul, Blues, Country und Gospel waren im Sound der Liverpooler Bands stärker präsent.


Als Trendsetter konnte sich Liverpool nicht lange behaupten. Bald war der Hype vorbei. Hatte der Merseybeat 1963 und 64 noch die Hitparaden beherrscht, ging die Erfolgsstory jetzt rapide zu Ende. Der Knock-out kam als die Beatles nach London zogen und das Medieninteresse und den Starrummel mitnahmen. Schlagartig rutschte Liverpool in die Normalität zurück. Knappe zwei Jahre war man Welthauptstadt des Pop gewesen, jetzt kehrte der Alltag wieder ein. Und der war grau! 


Denn ökonomisch ging es kontinuierlich bergab. Liverpool, einst einer der größten Seehäfen der Welt (1912 ging 15 % des gesamten Weltseehandels durch die Stadt), verlor vollständig an Bedeutung. Die Stadt wurde zum Problemfall, Arbeitslosigkeit, soziale Verwerfungen und Slums chronisch. In den 1980er Jahren kam es zu “Riots”. Mit Geld versuchte die Zentralregierungen in London die Wut zu befrieden. Das Albert Dock wurde zu einem Museums-, Shopping- und Café-Komplex umgebaut, der heute ein Touristenmagnet ist. Vor allem das Beatles-Museum, das Museum of Liverpool und die Kunstgalerie “Tate North” zieht Massen von Besuchern an. Doch nur ganz allmählich verbesserte sich die Situation. 


Inzwischen signalisieren chromgläserne Capuccino-Bars, dass es aufwärts geht. Und 2008 war Liverpool Kulturhauptstadt Europas. Seither hat sich viel verändert, viele moderne Bauten, Kaufhäuser und Shops sind in der Innenstadt entstanden, jedes angesagte Label ist hier präsent, doch kaum weicht man von den Hauptadern des Kommerzes ab, steht man wieder im alten Liverpool, wo die Häuser vor sich hinrotten und sich in den Hinterhöfen der Müll häuft. 

Friday 13 September 2024

Ausstellung "BEYOND THE BEAT": Merseybeat in Liverpool

DIE SZENE, AUS DER DIE BEATLES HERVORGINGEN

Im "Museum of Liverpool" habe ich gestern eine kleine Ausstellung über die Merseybeat-Szene der frühen 1960er Jahre gesehen. Sie weckte deshalb mein Interesse, weil ich vor Jahren einmal eine Radiosendung für den SWR zu genau diesem Thema gemacht hatte und aus diesem Umfeld einst die Beatles hervorgingen. Die Ausstellung "BEYOND THE BEAT" zeigt Fotographien von Bill Connoll und Les Chadwick, die diese für die Peter Kaye Fotoagentur machten. Die Fotodokumentation war vom Beatles-Manager Brian Epstein in Auftrag gegeben worden, um die Szene um den Cavern Club in der Matthew Street zu dokumentieren, vor allem auch die tourenden Bands aus London und Manchester, die hier auftraten, nebst amerikanischen Bluessängern wie John Lee Hooker und Sonny Boy Williamson. 

Menschenschlange vor dem Cavern Club in der Matthew Street wartet auf Einlaß zu einem Konzert.


Der Cavern Club war ein riesiger Gewölbekeller-Club in der Matthew Street, wo sich bei Auftritten das Publikum drängte. Hier die Gruppe THE REMO FOUR, die 1967 George Harrison auf seinem Album 'Wonderwall' begleiteten. Manche lokale Bands traten dutzende Male im Cavern auf. Selbst in der Mittagspause gab es 'Live'-Musik, dazu billiges Essen.



Die Gruppe THE CLAYTON SQUARES, die vom Cavern-Club-Betreiber Bob Wooler gemanagt wurde, bei einem Fotoshoot für eine Promo-Aufnahme irgendwo in einer Seitenstraße im Zentrum von Liverpool




Die Yardbirds mit einem jungen Eric Clapton (ganz links). Das Foto wurde im Januar 1964 gemacht beim ersten Auftritt der Band im Cavern Club, die insgesamt viermal hier auftraten.



Die Band von Alexis Korner namens 'Blues Incorporated' bei ihrem ersten Auftritt (von insgesamt zehn) im Cavern im November 1963. Damals begleiteten sie den amerikanischen Bluessänger Herbie Goins. Alexis Korner in der Mitte an der Gitarre – mit seiner karrierten Hose und dem Hütchen hat er sich  offentichtlich ganz besonders für den Auftritt zurecht gemacht.




John Mayall & The Bluesbreakers im Cavern Club: Mayall am E-Piano (links) und Hughie Flint am Schlagzeug. Später wurde Der Drummer mit der Gruppe McGuinness Flint durch ihren Hit "When I'm dead and gone" bekannt. An der Kellerwand hinter der Bühne haben sich die Musiker verewigt, die hier aufgetreten sind.




Amerikanische Bluessänger traten regelmäßig im Cavern Club auf, hier John Lee Hooker im Juni 1964. Sie übten eine massiven Einfluß auf die lokale Szene aus. Hooker war das erste Mal 1962 mit dem 'American Folk Blues Festival' nach Europa gekommen, wobei bei dieser ersten Tour das reisende Bluesfestival allerdings nicht in Großbritannien gastierte.