Spiritueller Jazz
Am 4. Juni 2025 wird der Komponist, Jazzsaxofonist und Bandleader Anthony Braxton 80 Jahre alt. Vor 20 Jahren habe ich ihn in London zu seinem 60. Geburtstag interviewt, ein Gespräch über Kreativität versus Orthodoxie, Musik als spirituelle Suche und die Aktualität der sechziger Jahre, das auch heute noch relevant erscheint
Foto: Hans Kumpf
Anthony Braxton zählt zu den markantesten und schillernsten Figuren des zeitgenössischen Jazz. Als Mitglied der Creative Construction Company (mit Leroy Jenkins und Leo Smith) und von Circle (mit Chick Corea), mit seinem bahnbrechenden Soloalbum für Altsaxofon von 1968, seinem Duett mit Max Roach und vor allem seinen eigenen Ensembles und Großformationen hat er es unternommen, “den Raum der Musik neu zu definieren” (Braxton). Er hat dabei der Jazzentwicklung entscheidende Impulse gegeben, was ihn in den 1970er Jahren zum Star der Avantgarde machte mit einem Plattenvertrag bei einem Major-Label.
1945 in einem Arbeiterhaushalt auf der schwarzen South Side von Chicago geboren, war Braxton immer ein Sonderling, der nicht das tat, was alle machten. Während die Jungs seines Viertels herumhingen und die Nachbarschaft unsicher machten, saß er daheim und brütete über Schachpartien oder übte Saxofon. Später wurde er zu einer führenden Figur der Chicagoer Musikerorganisation AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians), einem Selbsthilfenetzwerk, zu dem sich zahlreiche schwarzen Musiker des neuen Jazz in Chicago zusammenschlossen. Danach leitete er über Jahre seine eigenen Formationen, zu denen u. a. George Lewis, John Lindberg, Marilyn Crispell, Gerry Hemingway, Kenny Wheeler, Dave Holland, Barry Altschul, Mark Dresser, Ray Anderson und Mark Helias gehörten. Mitte der 1980er Jahre wurde es etwas ruhiger um Braxton, als er eine Lehrtätigkeit am Mills College an der Universität von Berkeley, Kalifornien annahm. Lange war er ordentlicher Professor an der Wesleyan Universität in Middletown, Connecticut. Aus seiner "Schule" sind Musiker und Musikerinnen der jüngeren Generation wie Taylor Ho Bynum oder Mary Halvorson hervorgegangen.
Mitte der sechziger Jahre wurden Sie Mitglied der Musikerselbsthilfeorganisation AACM. Wie kam es dazu?
Anthony Braxton: Als ich 1966 aus der Armee entlassen wurde, ging ich zurück nach Chicago. Ich war erst einen Tag daheim, da erzählte mir mein Cousin, der das einzige Familienmitglied war, der sich für meine Art von Musik interessierte, daß er von einer Gruppe von Musikern gehört hätte, die mich vielleicht interessieren könnten. Sie würden im Lincoln Centre in Chicago Konzerte geben und er empfahl mir, einmal hinzugehen. Ich fragte nach den Namen der Musiker und er erwähnte Roscoe Mitchell, was ein Zufall war, weil ich mit Roscoe Mitchell zur Schule gegangen war. Er hatte mir damals schon imponiert. Ich besuchte also ein Konzert des Maurice McIntyre Quintets, wobei die zweite Hälfte vom Muhal Richard Abrams Sextet bestritten wurde. Roscoe Mitchell war da, ebenso Henry Threadgill, den ich ebenfalls kannte, weil wir den gleichen Musiklehrer hatten. Er saß an der Kasse. Sie luden mich zu einer Probe der Experimental Band ein. Ich ging hin, womit meine Mitgliedschaft in der AACM begann.
Die Experimental Band gilt als die Urzelle des Avantgarde-Jazz in Chicago. Wie liefen die Proben ab?
AB: Man spielte hauptsächlich Kompositionen von Muhal Richard Abrams, was mir die Möglichkeit bot, erstmals ernsthaft in zeitgenössischen Jazz einzutauchen. Schon allein neben Musiker wie Roscoe Mitchell, Joseph Jarman und Henry Threadgill zu sitzen, war inspirierend. Ich traf dort viele fantastische Musiker. Es war wunderbar. Sie waren nicht an Standards interessiert oder ob man das Bebop-Repertoire beherrschte, der Schwerpunkt lag auf eigenen Kompositionen. Wichtig war, daß man sich voll einbrachte, daß man die Sache ernsthaft betrieb, regelmäßig zu den Proben erschien.
Ich hatte nach meiner Zeit bei der Armee das Gefühl, technisch mein Instrument gut zu beherrschen. Ich konnte komplexe Stücke vom Blatt spielen. Ich merkte aber, daß Roscoe Mitchell und Henry Threadgill schon viel weiter waren auf dem Weg, eigenständige Musikerpersönlichkeiten zu werden. Ich dagegen steckte noch in den Anfängen meiner Identitätsfindung als Musiker. Deshalb war es so inspirierend, in dieser Band zu spielen. Die Übergangsphase war extrem kurz: ich kam von der Armee heim und eine Woche später war ich schon Mitglied der AACM.
Foto: Hans Kumpf
War die Experimental Band ein eher offenes Ensemble mit fluktuierender Besetzung?
AB: Nicht wirklich. Man konnte nicht einfach aufkreuzen. Es war vielmehr ein bewußter Versuch eine Plattform zu schaffen für Musik, die über Sun Ra und Albert Ayler hinausging. Engstirnige Traditionalisten wären da fehl am Platze gewesen. Es war eine Gemeinschaft von Musikern, die sich gegenseitig unterstützten. Es gab einen Zusammenhalt durch die neuen Ideen. Wir hatten das Gefühl, das die 60er Jahre eine wichtige Periode war und die Musik von Cecil Taylor, Sun Ra und Ornette Coleman bedeutsam. Auf deren Errungenschaften wollten wir aufbauen. Diese Meinung wurde vom Gros der Jazzfans nicht geteilt. Ich habe Auftritte von John Coltrane erlebt, wo das Publikum in Scharen den Saal verließ. Heute schätzt jeder John Coltrane, damals war das anders.
Für einen Musiker wie mich, der Avantgarde-Musik spielen wollten, war das eine schwierige Entscheidung, auch eine politische. Die AACM half mir bei dieser Entscheidung, weil sie eine Gemeinschaft von Musikern bildete, die sich gegenseitig ermunterten. Man organisierte seine eigenen Konzerte, um die Musik in die Öffentlichkeit zu tragen. An einem Tag war ich der Kartenabreißer bei Henry Threadgills Konzert, am nächsten Tag saß Joseph Jarman bei mir an der Kasse. So funktionierte das! Es war ein wunderbares spirituelles Erlebnis und eine Bestätigung meiner Vision von der wachsender Wichtigkeit kreativer Musik. Ich wollte nicht einfach ein Unterhalter sein, der nach Erfolg schielte. Meine Musik sollte spirituell wirken. Wir waren uns klar darüber, daß mit dieser Musik kaum Geld zu verdienen sei. Die Begegnung mit der AACM war entscheidend, mir über all diese Punkte klar zu werden.
Die AACM war nicht nur eine Musikerorganisation. Die Zielvorstellungen reichten weiter?
AB: Ganz genau. Ich wurde mir durch die AACM vieler Dinge bewußt. Welche Verbindung gibt es etwa zur afrikanischen Musik. Ich interessierte mich damals ebenfalls für die Musik von Arnold Schönberg und Karlheinz Stockhausen, John Cage and Iannis Xenakis. Dieses Interesse wurde nicht von allen in der AACM geteilt. Doch herrschte dort eine offene geistige Atmosphäre. Es gab keine Parteilinie. Man mußte nicht den Standpunkt der Organisation vertreten, weil es ihn nicht gab. Im Gegenteil: man wurde ermuntert, aus der individuellen Erfahrung heraus seinen eigenen Weg zu finden, weshalb auch niemand in der AACM die gleiche Musik machte. Alle suchten ihren individuellen Weg.
Diese Haltung steht der Auffassung von Wynton Marsalis und Freunden diametral entgegen, die stilistisch festzulegen versuchten, was Jazz sei. Nicht, daß in der AACM nicht über Musik diskutiert wurde. Es gab dauernd Debatten, ob über Musik, Politik, Spiritualität oder neue Bücher, die man gelesen hatte.
Zudem wurde großen Wert darauf gelegt, positiv in der eigenen Community zu wirken. Eine Musikschule wurde eingerichtet. Man ging zu den Kindern heim, sprach mit den Eltern und fuhr die Kleinen dann zum Unterricht ins Lincoln Centre, wo auch in Gruppen musiziert wurde. Dann wurden sie wieder nach Hause gebracht. Das war eine wunderbare Initiative und trug viel zur politischen Bewußtwerdung bei. All das waren wichtige Erfahrungen für mich.
Stimmt es, daß sie Schwierigkeiten bekamen, weil ihre Musik von einigen afro-amerikanischen Musikerkollegen als zu weiß attackiert wurde?
AB: Das Problem existierte bereits, bevor es die AACM gab. Ich hatte immer Schwierigkeiten mit Leuten mit einer afro-zentristischen Sichtweise. Für mich kam eine solche Perspektive überhaupt nicht in Frage. Das wäre der Gipfel der Verlogenheit gewesen, weil ich nie einen natürliche Aversion gegenüber europäischer Musik empfunden habe. Nein, das genaue Gegenteil war der Fall. Ich war immer an beidem interessiert - Afrika und Europa -, was für mich kein Widerspruch darstellte. Allerdings kam meine Position ins Kreuzfeuer, als die politischen Spannungen zwischen weiß und schwarz in den 60er Jahren eskalierten. Mein ganzes Leben lang beeinträchtigten diese Probleme die Rezeption meines Werks.
Gibt es eine Verbindung zwischen dem afro-zentristischen Standpunkt der 60er Jahre und dem neo-konservativen Diskurs der 90er Jahren, wo der Jazz ja auch als spezifisch schwarze Musik definiert und festgeschrieben werden sollte?
AB: Ja, trauerigerweise. Damals wurde von den schwarzen Nationalisten in den USA alles Afrikanische gefeiert und alles Europäische verdammt. Ähnliche Positionen dringen in der aktuellen Debatte wieder durch. Das ist blanker Rassismus, der aber nicht als Rassismus erkannt wird. In Amerika konnten die Konservativen nur die Oberhand gewinnen, weil die Anführer der afro-amerikanischen Bevölkerung sich vom Konzept der Liebe abgewandt haben und auf Abgrenzung setzten. Anstatt die eigene Überlegenheit zu proklamieren und auf alles Europäischen herabzuschauen, wäre es nötig gewesen, eine intellektuelle Position zu entwickeln, die nicht abgrenzt und ausgrenzt, sondern vereint und auf globaler Ebene alle einbezieht. Es kann doch nicht richtig sein, den Rassismus der Weißen einfach umzudrehen.
Ähnliches gilt für den Femininmus und andere linke Bewegungen, deren Versagen dafür verantwortlich ist, daß Geoge W. Bush an die Macht kam. Die Linke war seit den 60ern nicht in der Lage, eine Vision zu entwickeln, die alle vereint hätte, sondern man grenzte sich von einander ab. Was die Afro-Amerikaner betrifft, ist das alles verständlich, angesichts ihrer lange Geschichten der Unterdrückung. Dennoch ändert es nichts an der Tatsache, daß es ein gewaltiger Fehler war.
Die Zeiten haben sich geändert. Die Zustände sind nicht mehr wie vor 50 Jahren. Eine der Hauptforderungen der 60er Jahre lautete, daß das weißen Amerika sich ändern müsse. Klar, daß war einen richtige Forderung, die aber nicht weit genug ging. Auch das afro-amerikanische Amerika hätte sich wandeln müssen. Daß das nicht gesehen wurde, war ein Versagen, eine verpaßte Gelegenheit. Es wurde gesagt, alle müssen sich ändern, nur wir nicht. Hier liegt der Hund begraben.
Foto: Hans Kumpf
Wie würden sie ihre eigene Position beschreiben?
AB: Ich fühle mich als Grenzgänger. Meine Erfahrungen habe ich immer dazwischen gemacht: Zwischen der weißen und schwarzen Bevölkerung, zwischen europäischen und afro-amerikanischen Traditionen, zwischen Jazz und der klassischen Musik. Als junger Mann befand ich mich plötzlich zwischen allen Stühlen, was mir sehr zusetzte. Mittlerweile bin ich es gewohnt. Ich hab an meiner Position festgehalten, auch wenn man mich ausgrenzte.
Heute bin ich glücklich, Teil einer Bewegung zu sein, die Neues erkundet. Früher grenzte sich jeder von jedem ab, was mich nicht davon abhielt, mich mit allem, was mich interessierte, zu beschäftigen, auch auf die Gefahr hin, daß man mich für wahnsinning hielt. Wo sie anderen Unterschiede ausmachten und sich distanzierten, sah ich Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte.
Wie haben Sie den Aufstieg des Neo-Konservatismus im Jazz der 90er Jahre erlebt?
AB: Als sich die neo-klassischen Vorstellungen formierten, war mir klar, daß es sich hierbei um einen Bewegung handelte, die von der alten Machtstruktur eingesetzt worden waren, um eine Nische für die afro-amerikanische Bevölkerung zu schaffen. Bebop-Musiker wurden dabei zu Stars gemacht, die dieser Ideologie entsprachen und eine rückwärtsgewandte Position vertraten, die ethnozentrisch war. Jazz wurde einzig und allein als Musik der Afroamerikaner definiert, wobei das europäischen Element geleugnet wurden. Es wurde gesagt, daß Lennie Tristanos Musik nichts mit Jazz zu tun hätte, was mich traurig stimmt. So wird jeder, der etwas Eigenständiges versucht, ausgeschlossen. Die Neo-Konservativen haben Jazz als ein abgeschlossenes Idiom definiert, nicht als eine dynamische Entwicklung, ein kreativer und spiritueller Prozess der Selbstbewußtwerdung, geleitet vom Gedanken der Universalität. Sie verwandelten Jazz in ein Museum. Ich dagegen bin an kreativer Musik interessiert. Sie wollten Jazz spielen wie Miles Davis oder wie John Coltrane, wobei vergessen wurde, daß vor Coltrane und Davis niemand so spielte. In der Ästhetik der AACM, wurde Wert darauf gelegt, nicht nur seinen eigenen Weg zu finden, sondern auch seinen eigenen Ton, sein eigenes Wertesystem, weil Jazz für uns mehr war, als eine eindimensionale Angelegenheit. Die Musik besaß eine spirituelle Dimension .
Foto: Hans Kumpf
Wie man hört, ist der kreative Jazz momentan in den USA wieder im Kommen vor allem bei jungen Leuten. Können sie diese Erfahrung bestätigen?
AB: Das ist für mich schwierig zu beurteilen, weil ich in Amerika fast keine Auftritte habe. Allerdings habe ich von Freunden Ähnliches gehört. Doch muß ich gleich einen Einwand machen: Wenn wir dabei von Freejazz sprechen, erscheint mir dieser Stil genauso statisch wie der neo-klassische Jazz. Hier hat sich ebenfalls eine Orthodoxie breit gemacht, die nicht mehr neugierig ist. Das hat mich der Jazzwelt entfremdet und ich würde mich heute nicht mehr als Jazzmusiker bezeichnen. Ich sehe mich als einen professionellen Studenten von Musik, aller Musik. Ich will Neues lernen und neue Ideen entwickeln.
An was für Projekten arbeiten sie im Moment?
AB: Ich verfeinere mein dreidimensionales System von Strategien weiter, bei dem Komposition, Improvisation und diverse Wahlmöglichkeiten komplexe Verbindungen eingehen und das es erlaubt, daß sich innerhalb der Gruppe immer neue spotane Untergruppierungen und Konstellationen bilden. Es ist wie eine Landkarte, wo die geographischen Punkte, die man ansteuern will, festgelegt sind, der Weg dorthin offen. Signale und Zeichen spielen eine wichtige Rolle und jeder einzelne Musiker folgt seinem eigenen Kompaß. Es gibt unendlich viele Optionen. Dafür brauche ich Musiker, die der technischen Herausforderung gewachsen sind, die an Musikstilen aus der ganzen Welt interessiert sind, die ernsthaft und diszipliniert arbeiten. Sie müssen gleichzeitig offen sein für Xenakis, Jelly Roll Morton, John Philip Sousa. Benjamin Britten, Paul Desmond und Polka-Musik. Meine Bandmitglieder sind Virtuosen auf ihren Instrumenten, Komponisten eigener Werke und Bandleader ihrer eigenen Gruppen.
Darüber hinaus bin ich an elektronisch interaktiver Musik interessiert.
Ich hoffe, daß meine Musik etwas zum neu erwachenden Spiritualismus beitragen kann, der gegen die Machtstrukturen der alten Eliten und der multinationalen Konzerne im Entstehen ist. Ich entwickle laufend mein Musiksystem weiter, an dem ich seit 40 Jahre arbeite. Es hat mir nie mehr Freude bereitet als heute. Ich fühle, daß Musik ein fantastisches Geschenk ist, und ich bin dankbar am Leben zu sein und glücklich, daß ich eine Arbeit tun kann, die mir am Herzen liegt.
Hörimpulse:
Anthony Braxton / Andrew Cyrille: Vol. 1+ 2 (Intakt, www.intaktrec.ch)
Anthony Braxton / Wadada Leo Smith: Saturn, Conjunct the Grand Canyon in a Sweet Embrace (PI Recordings, www.pirecordings.com)
Anthony Braxton & Milo Fine: Shadow Company (Emanem, www.emanemdisc.com)
Anthony Braxton: 23 Standards (Quartett) 2003. 4 CDs (Leo Records, www.leorecords.com)
Anthony Braxton Ninetet: (Yoshi's) 1997, Composition N 211 +212, Vol. 3 (Leo Records, www.leorecords.com)
Braxton / Szabados / Tarasov: Triotone (Leo Records, www.leorecords.com)