Entgrenzter
Klang
20 Jahre nach
seinem Tod ist der Avantgarde-Komponist John Cage so einflussreich wie nie - am
5. September wäre er 100 Jahre alt geworden
Foto: Peter Andersen
von Christoph
Wagner
“4’33” heisst
das vielleicht radikalste Stück des amerikanischen Avantgarde-Komponisten John Cage, das gleichzeitig
sein bekanntestes ist. Es besteht aus nichts anderem als vier Minuten und 33
Sekunden Stille. Der Interpret ist aufgerufen, ganz ruhig an seinem Instrument
zu sitzen und keinen Ton hervorzubringen. Wegen der Stille nimmt das Publikum plötzlich
die Klänge der Umwelt wahr. “Musik der 'Realität'” nannte das Cage, der ganz selbstverständlich auch Geräusche in
sein Klanguniversum einbezog. Man musste nur empfänglich dafür sein.
Obwohl Cage
wegen seiner skurrilen Ideen bis heute als verschrobener Exzentriker gilt, ist
sein Einfluss in der Welt der Musik spürbarer denn je. Ob im freien Jazz, im
experimentellen Pop, ob im elektronischen Remix oder unter Komponisten der
E-Musik-Avantgarde – überall hat sein Denken Fuß gefasst.
1912 in Los
Angeles geboren, liebäugelte der Schulbeste anfangs mit einer literarischen
Karriere, um 1930 erste kleine Stücke zu komponieren. Ein Studium beim
Exil-Österreicher Arnold Schönberg in Los Angeles schloss sich an, der seinen
Schüler eher als “Musikerfinder” denn als Komponisten einstufte.
1937 gründet Cage ein erstes Schlagzeugorchester, das auf
Alltagsgegenständen wie Blumentöpfen trommelte. Anfang der 40er Jahre zieht er nach
New York, wo er Konzerte mit seinen Kompositionen organisiert, die für Skandale
sorgen. Doch selbst durch Misserfolge lässt sich der jugendliche Neutöner nicht
entmutigen. In New York begegnet er dem französischen Dada-Künstler Marcel
Duchamp, dessen Vortstellungen von Alltagsgegenständen als Kunstobjekte einen
nachhaltigen Einfluss auf ihn ausüben. Durch Duchamp beginnt er auch, den
Zufall in sein kompositorisches Schaffen einzubeziehen und über das
nicht-intentionale unbestimmte Kunstwerk nachzudenken.
Cage interessiert sich für fernöstliche Philosophie, Zen-Buddhismus und
makrobiotische Ernährung. Er revolutioniert das Verständnis von Musik durch
Stücke für “präparierstes” Klavier. Doch Avantgarde-Musik zu komponieren, ist
eine brotlose Kunst. Oft ist er finanziell so abgebrannt, dass er gelegentlich sogar
hungern muss. Seine “heroische Phase” nennt er das später.
1954 tritt Cage zum ersten Mal bei den Donaueschinger Musiktagen
auf, 1958 wird er zu den Darmstädter Ferienjursen eingeladen. 1960 erscheint sein Buch “Silence”. Cage wird mit seinen Konzerten, Vorträgen und Happenings mehr und
mehr zu einem Wortführer der musikalischen Avantgarde. 1987 kommt er nach
Frankfurt ans Opernhaus, um die Uraufführung seiner Oper “Europeras” zu
betreuen. Gegen Ende seines Lebens werden Cage höchste Ehren zuteil. Er wird mit
Preisen und Ehrendoktorwürden dekoriert und als “Vater der musikalischen Avantgarde”
gefeiert. Kurz vor seinem 80. Geburtstag stirbt er am 12. August 1992 in New
York an einem Schlaganfall. Am 5. September 2012 wäre Cage hundert Jahre alt
geworden.
Neuerscheinung:
Alexei Lubimov & Natalia Pschenitschnikova: John Cage - As it is (ECM)
Viele der besten Cage-Alben sind bei WERGO in Mainz erschienen, das führende Label für zeitgenössische Musik, das dieses Jahr seinen 50. Geburtstag feiert: http://www.wergo.de/shop/en_UK/artists/1/john-cage/
Viele der besten Cage-Alben sind bei WERGO in Mainz erschienen, das führende Label für zeitgenössische Musik, das dieses Jahr seinen 50. Geburtstag feiert: http://www.wergo.de/shop/en_UK/artists/1/john-cage/
Eine superbe Einspielung früher Lyrikvertonungen von James Joyce, E. E. Cummings, Gertrude Stein und erster Stücke für präpariertes Klavier. CW
Foto: Peter Andersen
Statements zu Cage:
Heroische Phase
von Christian Wolff (Komponist, Hanover, New Hampshire)
In den 50er Jahren lebte John Cage in einem
winzigen Apartment auf der Lower East Side von Manhattan - weit unten. Ich
wohnte am Washington Square – ebenfalls Downtown. Ich ging regelmäßig einmal in
der Woche zum Unterricht zu ihm. Nach fünf, sechs Wochen meinte Cage, ich
bräuchte keinen Unterricht mehr. Ich solle einfach an meinen Kompositionen
arbeiten. Wir sahen uns weiterhin. Ich besaß kein Klavier und Cage bot mir an,
bei ihm zu üben. Deshalb besuchte ich ihn im Sommer in den Schulferien für drei
Monate fast jeden Tag. Ich brachte etwas zum Mittagessen mit. Wir redeten ein
bisschen und dann verzog er sich in seine Studierecke und ich übte Klavier. Um
vier oder fünf Uhr nachmittags ging er dann Uptown, um Freunde zu sehen und
sich mit Merce Cunningham zu treffen, und ich ging nach Hause. Wir nahmen die
U-Bahn und jeder stieg an der jeweiligen Station aus.
John Cage war stolz darauf, dass er sein Leben
riskiert hatte, um Komponist zu sein. Und irgendwie war er überzeugt, dass es
auch nur so ginge. Später nannte er diese Zeit seine “heroische Phase”, weil
das Leben so schwierig war. Und genau in dem Moment fing er mit dieser neuen
Methode der Zufallskomposition an. Die Leute sagten: „Nein! Er ist überhaupt
kein Komponist!“ Und diesen Schritt tat er zu einem Zeitpunkt, als er Arbeit
und
Unterstützung am dringendsten benötigt hätte. Das war absolut
bemerkenswert.
Grüne Oase
von Margaret Leng Tan (Pianistin, New York)
Als ich John Cage 1981 traf, war er bereits als einer der Vordenker der
Avantgarde akzeptiert und anerkannt. Seine Werke wurden weltweit aufgeführt,
überall gab es Interesse. Lange hatte er mit seiner Musik kein Geld verdient,
jetzt aber waren die Hungerjahre vorbei. Trotzdem lebte er weiterhin sehr
bescheiden. Er wohnte in Manhattan in der West 18th Street / Ecke 6th Avenue -
einer der lärmigsten Stellen in New York. Er hatte diesen wunderbaren Loft im
6ten Stock mit mehr als 200 Pflanzen. Es war eine grüne Oase inmitten dieses
Beton-Dschungels. Fortwährend konnte man den Straßenverkehr hören – rund um die
Uhr. Cage störte das nicht – im Gegenteil. Er sah darin eine dauernde Aufführungen
seines Stück “4’33”, das aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille besteht, was die
Umgebungsgeräusche in den Vordergrund treten lässt – Alltagsmusik!
Trotz seines vollen Terminkalenders und den vielen Reisen, tauchte er
dennoch häufig bei Avantgarde-Konzerten in Downtown Manhattan auf, selbst bei
solchen in privaten Lofts. In den 80er Jahren war der Minimalismus von Philip
Glass und Steve Reich der letzte Schrei in New York und beide waren von Cages
Buch “Silence” beeinflusst. Natürlich war das eine kleine Szene, doch in den
80er Jahren wuchs das Interesse. Zum
Konzert zu Cages 70. Geburtstag 1982 stand das Publikum Schlange vor dem
Konzertsaal. Seine Musik hatte eine Kraft, die über das Ghetto der Avantgarde
hinausreichte.
Tee mit John Cage
von Fritz Hauser
(Schlagzeuger und Komponist, Basel)
Diesen Sommer sind es 23 Jahre her, dass ich
John Cage in New York treffen durfte und er mich aufforderte, ihm das Projekt
mit Auftragskompositionen für Soloschlagzeug – insgesamt 11 Stücke von 11 KomponistInnen
aus Europa und USA – näher zu erläutern. Den Kontakt zu ihm hatte Pauline
Oliveros, die amerikanische Akkordeonistin, Komponistin und Philosophin, für
mich hergestellt und als ich ihn anrief, kam die Aufforderung zum Tee spontan
und herzlich.
Die mitgebrachten CDs wollte er nicht hören,
sagte, er würde gerne Geschichten und Stimmen hören und ich solle erzählen. Als
ich meine Erläuterungen abgeschlossen hatte, erhob er sich, ging in seiner mit
Licht durchfluteten Dachwohnung auf und ab, stand lange am Fenster, schaute auf
die 6th Avenue hinunter und sagte dann mit seiner weichen, immer mit einem
inneren Lächeln versetzten Stimme: I like it, I'll do it!
Das war der Auftakt einer Begegnung, die dann
bei der Besprechung seiner Partitur – 12 Monate, einige Briefe und 2 längere
Telefonate später –, in Berlin ihre Fortsetzung erfuhr. Ich hatte das zeitgenau
abgelieferte Stück studiert, mir verschiedene Fragen aufgeschrieben, wollte
gerne von ihm wissen, ob dieser oder jener Ansatz auch denkbar wäre, im Rahmen
seiner Spielanweisungen natürlich, wollte gerne seine Erlaubnis zur Interpretation
auch ohne Improvisation. Er schaute interessiert auf die Partitur, dann zu mir,
wieder auf die Partitur. Das ging so einige Male hin und her. Schlussendlich
hob er den Kopf, lächelte mich an und sagte: But Fritz, this is your piece!
Damit hat er mir die Verantwortung für das
Gelingen seiner Musik übergeben, hat mich dazu inspiriert, über Stille und
Klang, Spannung und Ruhe, Inhalt, Form und Stimmung nachzudenken. Vor allem
aber hat er mir sein Vertrauen geschenkt, mich einbezogen in die Gestaltung
seiner Musik. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.
Kürbis rösten
von Christina Tappe (Regisseurin, Berlin)
Ich arbeitete in Frankfurt a. M. an der Oper,
als 1987 die Uraufführung von John Cages “Europeras 1 & 2” anvisiert wurde.
Cage lud mich zur Mitarbeit ein. Ich habe mich mit ihm gleich gut verstanden. Ich
war damals Anfang zwanzig, und er war mit seinen 75 Jahren eine Großvatergestalt
für mich. Er wurde von allen vergöttert – John Cage, der Große! - und war genau
das Gegenteil: offen für alles, sehr kindlich, lebensfreudig. Cage war nicht
der Guru, zu dem er oft stilisiert wird, sondern viel, viel normaler. Alles,
was er wollte, war gesunde Nahrung, seine Ruhe haben und die “Europeras”
vernünftig auf die Bühne bringen.
Als ich ihn nach der ersten Probe kennenlernte,
hatte er gerade auf dem Biomarkt einen Kürbis gekauft und der musste jetzt
makrobiotisch zubereitet werden. Wir sind dann zuerst einen Ofen kaufen
gegangen, um diesen Kürbis zu rösten.
Die Konzeption der “Europeras” hat das Selbstbild
der beteiligten Opernsänger und –sängerinnen vollständig in Frage gestellt. Deshalb kam es zu Konflikten. Hier stand nicht
der einzelne Sänger im Zentrum, sondern er war Teil eines großen Ganzen, musste
vielleicht seine Arie in einer Ecke der Bühne im Dunkeln singen. Dagegen wurde
aufbegehrt. Es war, wie wenn man in einen Bienenkorb hineinsticht. Ich weiss
nicht, ob es naiv oder kalkulierend war, aber Cage stach da hinein.
Nach der Uraufführung fragte er mich, ob ich
nicht nach Amerika kommen wolle, um die Stelle seiner Assistentin zu
übernehmen, die frei geworden war. Ich arbeitete dann ein Jahr mit ihm in New
York zusammen. Zuerst stand die Produktion einer Noh-Oper in Tokio auf der
Tagesordnung, was sich aber zerschlug. Cage wollte das gleiche Zufallsprinzip
wie bei den “Europeras” auf das Noh-Theater anwenden. Doch die Beharrungskräfte
in Japan waren stärker.
Cage arbeitete “nine to five” - zu den normalen
Bürozeiten. Ich half ihm im Umgang mit dem Computer, der damals noch ziemlich
neu war. Er setzte den Computer für seine Zufallskompositionen ein, um das
Material zu sortieren und bestimmte Noten den Zahlenreihen zuzuordnen. Ich war
auch für seine vielen Blumen zuständig, war irgendwie Mädchen für alles. Cage
war ein extreme liebenswerter Mensch, der zu allen nett und freundlich war, was
mächtig ausgenutzt wurde. Zu seinem 80.
Geburtstag waren viele Konzerte und Festivals geplant. Er wäre monatelang in
Europa unterwegs gewesen. Er wurde ihm zu viel. Er hätte alles am liebsten abgeblasen.
Drei Tage vor der Abreise erlitt er einen Schlaganfall.
Absichtslose Klänge
von
Ulrich Krieger (Saxofonist, Komponist, Hochschullehrer und Mitglied in der Band von Lou Reed, Los Angeles)
Ich
hatte die Idee, Cages gesamte Saxofonwerke aufzunehmen. Ich habe ihn dann 1990 bei
den Ferienkursen in Darmstadt persönlich kennengelernt und ein paar Wochen später
erneut in New York getroffen, um über die Interpretation zu sprechen Cage war
sehr nett und aufgeschlossen für Fragen und Vorschläge – keine Starallüren.
Denn wer war ich den damals schon? Ein kleiner klassischer Saxofonist, der
gerade seinen Hochschulabschluss gemacht hatte. Ich hatte nichts vorzuweisen,
und trotzdem ließ er sich darauf ein.
Schon
während des Studiums habe ich mich für die amerikanische Avantgarde-Musik
interessiert, die völlig anders war als die europäische. Deshalb hat mich Cage,
aber auch Morton Feldman und die Minimalisten fasziniert, weil ihre Musik kein
Drama kennt. Es ist im weitesten Sinne “Ambient Music”, Musik, die nicht auf
ein Ziel zustrebt, die auf keinen Höhepunkt hinausläuft, sondern einfach IST.
Der Komponist gibt dem Klang Raum, dass er sein kann. Dieses Absichtslose hat
mich bei Cage fasziniert.
Cages
kompositorisches Zufallsprinzip wird oft mißverstanden,
weil es sich nur auf den Kompositionsprozeß bezieht, nicht auf die
Interpretation. Seine Stücke geben dem Interpreten Freiheit, die es aber sinnvoll
zu nutzen gilt. Mit Freiheit kommt Verantwortung. Das heisst: Man muss sich mit
den Stücke intensivst auseinandersetzen, eine Haltung dazu entwickeln. Die
Frage ist: Wie weit geht die Freiheit? Wann schlägt sie in Beliebigkeit um?
Solche Fragen habe ich mit Cage erörtert. Man muss die Stücke verstehen lernen,
begreifen, was ihm vorschwebte. Nur so geht man mit der Freiheit verantwortlich
um.
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