Wednesday, 26 September 2012

RADIKALE TRADITION - Matthew Shipp


Die radikale schwarze Tradition

Der New Yorker Jazzpianist Matthew Shipp



von Christoph Wagner
 
Matthew Shipp ist einer der kreativsten Köpfe der New Yorker Jazzszene: Pianist, Plattenproduzent und Bandleader in einer Person - er hält die schwarze Freejazz-Tradition am Leben, obwohl er auch ein Faible für elektronische Sounds hat. Das sei der Gegenwart geschuldet, sagt er.
 
Höchstens zwei Dutzend Zuhörer saßen etwas verloren im Kirchenraum der Middle Collegiate Church in der 7ten Straße von Manhattans Lower East Side. Sie lauschten einem jungen Pianisten, dessen Finger mühelos-leicht über die Tasten huschten, um einen filigranen Strom von Tönen zu erzeugen. Einfühlsam wurde der “Nobody” von zwei erfahrenen Improvisationsmeistern begleitet: William Parker (Kontrabass) und Steve McCall (Schlagzeug) waren sich nicht zu schade, ihre Reputation in die Waagschale zu werfen, um dem Newcomer zu erster Beachtung zu verhelfen.
 
Das junge Talent am Piano war der 26jährige Matthew Shipp, der Mitte der 80er Jahre seinen Einstand in New York gab. Seine Musik war eindeutig in der Tradition des schwarzen Freejazz verwurzelt, besaß aber dennoch einen dezenten Fluß und federnden Swing. Shipp musizierte eher zurückhaltend, ja fast schüchtern, spielte keine aufbrausende “Fire Music”, sondern knüpfte aus feingewobenen Tonfäden filigrane Klanggebilde. “Als ich nach New York kam, wollte ich unbedingt vermeiden, wie Cecil Taylor zu klingen,” erinnert er sich. “Es ging darum, meine eigene Handschrift zu finden.”
 
Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, zählt Shipp zu den etablierten Namen im modernen Jazz. Jahrelang hat er als Begleiter in den Gruppen von William Parker, David S. Ware oder Roscoe Mitchell improvisiert, darüber hinaus mit Elektronikern wie DJ Spooky und Spring Heel Jack gearbeitet. Dazu kamen eigene Bandprojekte. Obwohl Shipp mittlerweile über fünfzig ist, ist er ein umtriebiger Geist geblieben.
 
Kleine Besetzungen liegen ihm besonders, wobei das klassische Jazzpianotrio ein Format ist, das ihn bis heute in den Bann zieht. “Diese Besetzung ist ein elementarer Bestandteil der Jazztradition. Jeder Pianist hat irgendwann einmal im Trio gespielt. Das Konzept fasziniert mich, obwohl ich versuche, innerhalb dieses Rahmens etwas anderes zu machen,” erläutert er sein Faible.
 
Neben seinem Trio ist Shipp auch im kammermusikalischen Duo mit einem alten Weggefährten zugange: dem Saxofonisten und Klarinettisten Sabir Mateen. Ihre frei improvisierte Musik ist keine totale Improvisation. Subtil werden Themen eingeflochten, wobei die Musik einer Dramaturgie folgt, die sich von lyrisch-versonnen zu wild-expressiv steigern kann. Sogar Fragmente von Jazz-Standards können anklingen.
 
Über die Jahre hat Shipp an Statur gewonnen. Aus dem zurückhaltenden Neuling ist eine selbstbewußte Musikerpersönlichkeit geworden, die souverän über die ganze Palette der schwarzen Jazzpianotradition verfügt. Sowohl Innovation als auch Konsistenz kennzeichnen sein Spiel. “Die Konstante bin ich selber. Die Grundsubstanz von dem, was ich tue, ist dieselbe geblieben, obwohl sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Interessen in den Vordergrund schieben,” erklärt er. “Manchmal habe ich mich ganz bewußt in die Tradition der Jazz-Avantgarde gestellt, dann gab es wieder Zeiten, wo ich mich einfach als Jazzpianist verstanden habe, als Erbe von Bud Powell und Thelonious Monk. Ich habe mich weiterentwickelt, doch meine Identität ist die gleiche geblieben.”


 
Seit mehr als zehn Jahren ist Shipp noch in einem zweiten Beruf tätig. Er zeichnet als Kurator für die Veröffentlichungen der “Blue Series” beim New Yorker Plattenlabel Thirsty Ear verantwortlich. Dort macht er sich vor allem für innovative Kooperationen von Jazzmusikern mit Hiphop-Künstlern und Elektronikern stark. “Wir greifen einfach interessante Projekte auf,” meint er lapidar. “Die Fusion von Jazz und Elektronik scheint eine Notwendigkeit der Zeit zu sein.”
 
Trotz dieser Faszination hat Shipp nicht vor, sich zum Elektroniker zu häuten. Allerdings sieht er in der Elektronik eine Herausforderung, der der Jazz nicht ausweichen sollte. “Man kann seiner Umgebung nicht entkommen. Computer sind heute Teil unseres zentralen Nervensystems,” argumentiert er. “Deshalb muss man ihre musikalischen Möglichkeiten erkunden, selbst im Kontext akustischer Musik.”
 
Matthew Shipp: Art Of The Improviser (Thirsty Ear)
 

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