Heute ist mir auf dem Flohmarkt ein kleiner Stapel alter Jazzplatten billigst in die Hände gefallen: Dizzy Gillespie, Sonny Criss, Stan Getz, Bud Powell, Coleman Hawkins, Jim Hall – also klassische Jazzmoderne, Bebop und Cool – solche Sachen. Die Schallplatten haben die Größe einer Single, doch sind in der Regel auf jeder Seite zwei Stücke drauf. Alle sind in den 1950er Jahren in den USA erschienen und wurden dann wohl in England auf Vogue Records, Esquire oder ARC Records abermals als Single herausgebracht, was auf die größere Popularität der Jazzmusik und einen größeren Markt damals hindeutet. Einige haben bemerkenswerte Cover.
Amateur-Jazz-Festivals wirkten einst als Sprungbrett in eine Profikarriere
In den 1950er Jahre erhielt der Jazz einen Schub durch die Amateur-Jazz-Festivals, die bald jährlich in Wien, Zürich oder Düsseldorf stattfanden. Es waren Bandwettbewerbe, bei denen an die auftretenden Bands am Ende Auszeichnungen verliehen wurden: erste, zweite und dritte Preise. Viele der Musiker, die sich bald als Profis auf der Jazzszene einen Namen machten, konnten sich bei diesen Amateurfestivals erstmals einem größeren Publikum vorstellen – es waren Sprungbretter in eine Musikerkarriere. Die Beatband-Wettbewerbe Anfang der 1960er Jahren haben sich hier wohl ihre Inspiration geholt. (https://christophwagnermusic.blogspot.com/2024/03/zum-tod-von-jurgen-heinz-elsasser-1947.html)
Manche dieser Festivals schnitten das Programm mit, um es danach als LP zu veröffentlichen. Es gibt Alben vom 12. Amateur-Jazz-Festival Zürich 1962 und vom 4. Österreichischen Amateur Jazz Festival 1964, mit dabei beide Male das Iréne Schweizer Trio aus Zürich mit Mani Neumeier, dr und Uli Trepte, b, die bald darauf zum elektrischen Rock konvertierten und Guru Guru (Groove) gründeten. (vergleiche: https://christophwagnermusic.blogspot.com/2021/06/irene-schweizer80.html)
Volker Kriegel (1943-2003), bekannter Gitarrist zwischen Jazz und Rock, begann seine musikalische Laufbahn auf einer derartigen Veranstaltung. In einem Essay, den er 1983 für den (extrem schlechten) Sammelband 'JAZZROCK – Tendenzen einer modernen Musik' verfasste (Hg. Burghard König), beschreibt er den Event – seinen Auftritt auf dem 9. Deutschen Amateur-Jazz-Festival Düsseldorf: "1963 geht das Volker Kriegel Trio (mit Helmut Kampe, b und Dieter Matschoß, dr) als Sieger aus der Vorentscheidung zum Düsseldorfer Amateur Jazz Festival hervor und spielt bald mit klopfendem Herzen und zittrigen Fingern vor dem fachkundigen Großstadtpublikum und der gestrengen Jury im Düsseldorfer Schumann-Saal. (Auf einem Zeitungsfoto sehe ich einen ordentlich gekämmten Neunzehnjährigen mit dunklem Anzug und Schlips, der – tief über eine riesige Gitarre gebeugt – auf einem Stuhl sitzt und sich heftig auf die Unterlippe beißt.) Wir spielen "Django" (von John Lewis), irgendeinen Blues und sogar ein eigenes Stück namens "Funny Piece". Wir landen auf Anhieb, totaler Wahnsinn, auf dem zweiten Platz, und ich werde zum "besten Solisten" gekürt."
Wie Volker Kriegel mit seinem Trio 1963 als Neunzehnjähriger geklungen hat, kann man auf der Live-Aufnahme vom 9. Deutschen Amateur-Jazz-Festival Düsseldorf hören. Und das ist doch schon recht beachtlich – von wegen "zittrige Finger"! Das Stück "Django" beginnt bei 23:56 min.
Freejazz kann recht eintönig sein! Doch wie der Falle entgehen, dass das freie Spiel sich fortwährend um die eigene Achse dreht? Das junge Quartett der österreichischen Pianistin Anna Sophia Defant namens s:e hat den Weg der Post-Production gewählt, was heißt: Zuerst wird frei improvisiert, dann die Improvisationen im Studio seziert und einzelne Sequenzen destilliert, die dann durch Nachbearbeitung mittels Cuts zu Stücken ausgearbeitet werden. Mit diesem Verfahren wird Gleichförmigkeit vermieden, indem jeder Titel einen eigenen Charakter erhält. Das ist nicht neu: Schon Teo Macero arbeitete mit Miles Davis in seiner elektrischen Phase nach
demselben Prinzip.
Was den Gruppensound des Defant-Quartetts betrifft, erinnert s:e gelegentlich an die Gruppe Last Exit von Brötzmann, Laswell, Shannon-Jackson und Sharrock, die Ende der 1980er Jahre den freien Jazz elektrifizierten. Das ist vor allem dem japanisch-österreichischen Gitarristen Kenji Herbert zu verdanken, der einmal nicht, wie viele seiner Altersgenossen, Kurt Rosenwinkel nacheifert, sondern eher in Richtung Sonny Sharrock tendiert und Widerhaken in den musikalischen Prozeß einbaut. Von brachialen Nummer bis zu meditativen Stücken reicht das Spektrum der Titel, die nie ausufern, sondern immer knapp gehalten sind, dazu immensen Formwillen beweisen, was dieses Debutalbum zu einer recht kurzweiligen Angelegenheit macht.
GIG – frühe Versuche mit anti-kommerziellen Popkonzerten
Zwischen 1970 und 1971 gründete sich in Reutlingen / Tübingen ein gemeinnütziger Verein namens 'Gig', der versuchte, das Popgeschäft alternativ aufzumischen. Die Initiative buchte eine Rockband direkt in England für eine oder zwei Wochen und bot sie dann Konzertinitiativen, ASTAs oder Jugendgruppen für ein Konzert an, wobei die Einkünfte vom Eintrittsgeld nach Abzug der Unkosten an 'Gig' gingen. Der Vorteil für den lokalen Veranstalter war, dass er kein Risiko eingehen musste. Das lag komplett beim alternativen Tourveranstalter 'Gig'. Das Konzept funktionierte eine Weile, weil bei extrem niedrigen Eintrittspreisen und einer englischen Band, ob Warm Dust, Swegas oder Freedom, die Säle und Turnhallen selbst in der Provinz mit 500 bis 1.000 Besuchern immer voll waren.
Bevor GIG zusammenfand und sich als gemeinnütziger Verein konstituierte, hatte die Popinitiative in Reutlingen schon Rockkonzerte veranstaltet, wie das Plakat zeigt. Guru Guru Groove war die Band um Mani Neumeier und Uli Trepte, die sich bald nur noch Guru Guru nannte. Die beiden waren wegen Jimi Hendrix vom Freejazz, wo sie in Zürich im Irène Schweizer Trio spielten, zur elektrischen Rockmusik übergelaufen.
Eine bemerkenswerte Popvideo-Geschichte der gerade sehr angesagten britischen Popgruppe Wet Leg. Titel: 'Davina McCall' vom neuen Album 'Moisturizer' (Domino Records)
Der Kontrabassist und Komponist Antonio Borghini, 1977 in Mailand geboren und heute in Berlin lebend, ist eine der originellsten Stimmen der zeitgenössischen italienischen Jazzszene. Banquet of Consequences heißt sein wahrhaft internationales Ensemble, das sich durchweg aus Berliner Jazzemigranten zusammensetzt. Mit von der Partie sind der französische Altsaxofonist Pierre Borel und der deutsch-britische Tenorsaxofonist Tobias Delius, der türkische Cellist Anil Eraslan und die japanische Pianistin Rieko Okuda sowie der Schlagzeuger Steve Heather aus Australien.
Anfang 2024 verbrachte Borghini längere Zeit in Marseille, wo die Kompositionen für dieses Albums entstanden sind, die dann im Herbst in einem Studiokonzert in Berlin “live” eingespielt wurden. Borghini lotet dabei das ganze Spektrum an Stilformen aus, die der Jazz seit seinen Anfängen zu bieten hat und die von einer Ragtime-Nummer bis zu avantgardistischen Geräuscherkundungen reichen, wobei auch argentinischer Tango, Klezmermusik und südafrikanischen Township-Jive anklingen. Überzeugend gelingt es Borghini und seinem Ensemble, all diese heterogenen Einflüsse organisch zu einem sinnvollen Ganzen zu verschmelzen, das vor Witz, Fantasie und musikalischer Virtuosität nur so strotzt und bei dem wohl Charles Mingus als Inspirationquelle Pate stand.
Hörprobe:
Antonio Borghini & Banquet of Consequences – ... the dropper
Dem Zeitgeist entkommt man nur schwer. Jeder ist davon angekränkelt. Selbst in die Refugien der alpenländischen Volksmusik drang in den 1920er Jahren der Jazz ein, der damals – als Tanz! – in Europa Furore machte und zur großen Mode wurde. Eine Jazz-Combo unterschied sich von einer herkömmlichen Tanzkapelle nicht nur durch das Repertoire der neuen Tänze wie Jitterbug, Shimmy, Charleston oder Foxtrott, sondern auch durch den Schlagzeuger oder die Schlagzeugerin, die den Rhythmus vorgab und im Südwesten "Der Jatzer" genannt wurden. Die Werbepostkarte von Seppl Wirthmann's oberbayrischer Stimmungskapelle und Bauern-Jazz-Band von ca. 1920 legt davon beredtes Zeugnis ab – Jazz gespielt in Lederhosen, mit Tirolerhut und Gamsbart. Wie der wohl geklungen haben mag?
Die Kapelle war in den 1940er Jahren weiterhin aktiv, hatte aber die Bezeichnung "Bauern-Jazz-Band" unter der Nazi-Herrschaft aus ihrem Bandname gestrichen.
1967 war das Jahr als Westdeutschland die Soulmusik entdeckte. Im Sommer 1968 fanden dann die ersten Soulkonzerte in Baden-Württemberg statt, als King Curtis & The Kingpins in Stuttgart und Freiburg/B. auftraten. In der Zeitschrift Jazzpodium wurden die beiden Auftritte angekündigt, die von der Tourneeagentur Lippmann & Rau durchgeführt wurden. Der afroamerikanische Saxofonist King Curtis war durch seinen Hit "Memphis Soul Stew" – veröffentlicht 1967 – damals in aller Munde. Nach dem Stuttgarter Auftritt hängte die Gruppe noch einen Mittnachtsgig in der Reutlinger Diskothek 'Black Mustang' an (betrieben von Heinz Bertsch), von dem Anwesende bis heute schwärmen.
Das Plakat von King Curtis 1968 auf Deutschland-Tour, hier von den Auftritt in Wiesbaden, die den amerikanischen Saxofonisten auch nach Freiburg und Stuttgart führte; Interessant im Vorprogramm die Wiesbadener Gruppe The Soul Caravan mit zwei schwarzen GIs als Sänger, die sich später in Xhol Caravan umbenannte, und dann nur noch Xhol hieß und heute als eine der maßgeblichen Krautrock-Gruppen gilt.
King Curtis & The Kingpins: Memphis Soul Stew (youtube)
Der schwedische Saxofonist Mats Gustafsson ist als Brötzmann-Jünger bekannt, weil er mit ähnlicher Rigorosität zur Sache geht. Dass er auch anders kann, beweist das Album Traces, das er mit der Gruppe Cosmic Ear eingespielt hat. Der Spiritus Rector dieses Quintetts ist der Baßklarinettist und Pianist Christer Bothén (Jg. 1941), Doyen der schwedischen Jazzszene, der in den 1970er Jahren länger mit Don Cherry gearbeitet hat, dem dieses Album gewidmet ist. Überzeugend gelingt es den fünf, die Musik des amerikanischen Freejazzpioniers zu neuem Leben zu erwecken, die ja immer mehr zur “Weltmusik” wurde, indem Cherry Instrumente und Stilformen aus allen Ecken des Globus einbezog.
Diesen Geist atmet auch die Einspielung. Es ist erstaunlich, mit welcher Wärme, welchem Einfalls- und Farbenreichtum das halbe Dutzend Kompositionen von Cherry in Szene gesetzt werden. Neben Saxofon, Piano und Baßklarinette, (gestopfter) Trompete (Goran Kajfeš), Kontrabass (Kansan Zetterberg) und Congas (Juan Romero) sorgen Berimbau und Ngoni für exotisches Flair, dazu kommen diverse Flöten und Perkussionsinstrumente sowie Elektronik. Zusammen ergibt das ein dichtes Geflecht aus feingesponnenen Melodiefäden, wiederkehrenden Ostinato-Schlaufen und bunten Klang-Pattern, aus denen sich dann einzelne Soli herausschälen. Ein wunderbares Album einer äußerst inspirierten Truppe.
Er war mir als Bigbandleader aus den großen Samstagabend-Unterhaltungsshows im Fernsehen in den 1970er Jahre bekannt, wo er mit seinem Tanzorchester auftrat. Max Greger stand vor seinen Musikern und gab mit ein paar lässigen Handbewegungen das Tempo vor, manchmal spielte er auch Saxofon. Dass der Tanzmusiker einen Jazz-Background hatte, hörte man munkeln, Konkretes trat nie zutage. Jetzt ist mir auf einem Flohmarkt eine Single in die Hände gefallen, die Max Greger als Jazzmusiker präsentiert, veröffentlicht 1954 auf dem Brunswick Label mit seiner Combo, zu der u.a. auch Hugo Strasser (Saxofon und Klarinette) gehörte, der mit seinem Orchester eine ähnliche Laufbahn einschlug wie Greger.
"Jump" heisst der Titel der Platte, ein Hinweis auf den Jump-Jazz, den die vier Stücke verkörpern. Drei stammen vom amerikanischen Rhythm & Blues-Bandleader Tiny Bradshaw, was die Richtung vorgbit. Kein Wunder, dass in den Nummern schon die Keime des Rock 'n' Roll angelegt sind. Greger spielt diese sehr rhythmische Tanzmusik auf solide Weise. Es ist nicht gerade der wildesten Sorte von Musik, wenn man sie mit dem vergleicht, was damals von Charlie Parker und anderen in den USA gespielt wurde, aber immerhin eine Musik, die noch zehn Jahre zuvor in Deutschland verboten war.